Warum Neurodivergenz-bestätigende Fortbildungen?
Es ist mir ein wichtiges Anliegen, Fachpersonen und Pädagog*innen einerseits die Dringlichkeit einer Veränderung zu Neurodivergenz-bestätigender Praxis aufzuzeigen und sie auf diesem komplexen Weg durch theoretischen Input, Orientierung, fallbezogener Beratung und Good-practice-Beispiele zu unterstützen.
Eine der zentralen Ziele der Neurodiversitätsbewegung ist eine Veränderung der Fachpraxis (einschließlich in Bildungseinrichtungen) zum einen dadurch, dass aufgezeigt wird, inwiefern bisherige Praxis problematisch ist und zum anderen durch Vorstellung von respektvollen und empowernden Alternativen.
Global setzen Studiengänge allmählich einen klaren, Neurodivergenz-bestätigenden Schwerpunkt und zentrieren neurodivergente Dozent*innen. Mehr und mehr Ausbildungsinstitutionen und Fachpraxen arbeiten eng mit neurodivergenten Fachpersonen, Advocates oder lived experience Eductorn zusammen ausgehend von der Erkenntnis, dass der notwendige Wandel partizipativ bzw. unter Federführung der entsprechend informierten Neurominderheiten stattfinden muss.
Gleichzeitig führt das Neurodiversitätsmodell - bzw. die Tatsache, dass es unterschiedlich zusammengefasst und vorgestellt wird - nicht nur zu großen Unterschieden in Ausbildung und Fachwelt, sondern auch zu Verunsicherungen.
Viele Therapeut*innen, Pädagog*innen und Dienstleister*innen merken selbst, dass bisherige Praktiken für viele – schulpflichtige – neurodivergente Menschen nur bedingt oder nicht aufgehen. Gerade wenn junge Menschen anfangs motiviert bis begeistert in therapeutischen Situationen, in Kita oder in der Schule wirkten, sich dann aber doch vermeintliche "non-compliance" (oder intervention fatigue), "Schulmüdigkeit" oder "Unbeschulbarkeit" bis hin zu schulbedingter Traumatisierung/PTBS einstellt, entsteht auch auf Seiten von Fachpersonen Verunsicherung bis Frustration.
In Bezug auf junge autistische Personen im schulpflichtigen Alter sind Statistiken alarmierend. Junge autistische Menschen neigen 28-mal häufiger zu Suizidalität und selbstverletzendem Verhalten als nicht-autistische gleichaltrige Menschen. Jede dritte autistische Person erlebt Suizidpläne oder Suizidversuche. Suizid ist neben (oftmals nicht erkannten) kardiovaskulären Problemen und Epilepsie die Haupttodesursache und unterschiedliche Studien ergeben eine durchschnittliche Lebenserwartungszeit von autistischen Personen von zwischen ca. 35 Jahren bis ca. 54 Jahren, wobei vor allem junge autistische Personen von frühzeitigem Tod bedroht sind. Zusätzlich erleben autistische Menschen häufiger u.a. Viktimisierung, Bullying, Mobbing, Diskriminierung und damit einhergehend dauerhaft erhöhte Cortisolspiegel.
Anekdotisch und in der kollektiven Arbeit neurodivergenter Personen ist schon länger bekannt, dass autistische junge Menschen, junge Menschen mit AD(H)S und PDA*erinnern gerade im Kontext von Schule nicht-erkannte Barrieren, Traumatisierung und eine - teilweise dramatische - Abnahme des psychischen Wohlbefindens und des Zugriffs auf vorhandene Kapazitäten ("Regression") erleben.
Immer mehr wissenschaftliche und partizipative Arbeiten erkennen das Themengebiet von neurodivergenten jungen Menschen, Schule und psychischem Wohlbefinden als brisant an –kommen zu ernüchternden Erkenntnissen und dringenden, Neurodivergenz-informierten Empfehlungen.
Andere kollektive und wissenschaftlichen Arbeiten zeigen auf, dass gängige Interventionen ohne fundiert Neurodivergenz-informierte und Diskriminierung berücksichtigende Basis eine Reihe von nicht erkannten Barrieren behalten.
Nicht-autistische Personen schätzen z.B. ihre Unterstützung und Angebote für autistische Personen als hilfreicher ein, als sie von diesen tatsächlich empfunden werden, und bemerken nicht, dass sie selbst das Verhalten, Ton, Mimik, Intentionen, Erleben und Reaktionen autistischer Personen missverstehen bzw. sie (unbewusst) abwerten.
Gleichzeitig reflektieren viele Ausbildungen und Fachpraxis bestimmende Netzwerke – u.a. im deutschsprachigen Raum – wichtige Entwicklungen der letzten 40 Jahre nicht.
Fachtherapeut*innen und Pädagog*innen erleben es als verunsichernd und frustrierend, wenn sie durch Neurodivergenz-informierte Angebote erfahren, dass die als fachpraktischer Konsens erlernten Theorien und Ansätze - die sie teilweise mit viel Engagement personalisiert und angepasst haben – relevante Erkenntnisse nicht berücksichtigen und problematische Wirkungen haben. "Das wurde uns ganz anders vermittelt“ wird mir in Fortbildung und Beratung gesagt.
Ohne entsprechende Sensibilisierung und Kenntnis von Neurodivergenz-bestätigenden Alternativen für Interaktion und Kommunikation wird oft nicht bemerkt, welchen Einfluss die eigene Kommunikationsgestaltung, Räumlichkeit und Reaktionen auf die Interaktion mit (jungen) neurodivergenten Personen haben (Double Empathy Problem), dass gewählte Bildungs- oder Therapieziele nicht empowernd sind oder gewählte Strategien senso-motorische Barrieren enthalten.
Keine oder verkürzte Kenntnisse darüber, wie sich sensorische Differenzen auf Verhalten auswirken, welche neuromotorischen Differenzen existieren (wie sie auftreten, welches Verhalten sie bewirken, wodurch sie aktiviert werden und wie sie respektvoll unterstützt werden können), wie Adultismus, sensorische Traumata und Invalidierungserfahrungen junge Menschen beeinflussen, wirken sich besonders hindernd in der eigenen Praxis und Bildungsumgebung aus.
Sowohl in Bezug auf Kita und Schule, als auch in Bezug auf potenziell für neurodivergente Personen wichtigen Therapieformen wie Ergotherapie, Sensorische Integrationstherapie, Psychotherapie, Physiotherapie und Sprach- und Sprechtherapie/Logopädie zeigt das Neurodiversitätsmodell einerseits unerkannte Barrieren, Invalidierungen und hindernde Methoden auf. Gleichzeitig erarbeiten Neurodivergenz-bestätigende Therapeut*innen und Personen in engem kollektiven Austausch Neurodivergenz-bestätigende Alternativen, Ressourcen und Praxis.
Die Frage nach der konkreten, respektvollen und Adultismus-informierten Umsetzbarkeit des Neurodiversitätsparadigmas in der Unterstützung von jungen neurodivergenten Menschen ist eine Herzensangelegenheit für mich und ich tausche mich seit Jahren intensiv in globalen Netzwerken mit neurodivergenten Fachpersonen, Forscher*innen und lived experience Educatorn dazu aus.
Es ist mir ein sehr wichtiges Anliegen, diese Inhalte durch meine Fortbildungen, Fachberatung und Bildungsangebote Fachpersonen zugänglich zu machen und sie auf dem Weg zu Neurodivergenz-bestätigender Fachpraxis zu unterstützen.