Neuromotorische Differenzen, Behinderungen und Disinhibitionen
Die meisten autistischen Personen, Personen mit Aufmerksamkeitsdifferenzen/AD(H)S und vermutlich auch Personen mit PDA Profil haben unterschiedliche Formen und Ausprägungen von sensorisch basierten, neuromotorischen Differenzen und/oder Behinderungen.
Das bedeutet je nach Form und Ausprägung, dass Handlungsplanung und Handlungsdurchführung nicht immer wie geplant ablaufen. Oder anders gesagt:
In manchen Situationen kommt es zu Handlungen oder Aussagen/Geräuschen, die nicht intendiert waren - also die die Person nicht machen wollte. Oder Handlungen und Aussagen/Geräusche bleiben aus - die Personen kann Körper und stimme nicht so modulieren, wie sie möchte.
Das kann so aussehen, dass die Person (situativ oder oft) durstig ist, etwas trinken möchte, aber das Glas runter wirft. Oder nicht nach dem Glas greift. Es kann so aussehen, dass eine Person mit der (manchmal) Stimme Sachen sagt, die sie nicht mal denkt. Es kann so sein, dass eine Person situativ - ohne Wut - Sachen kaputt macht, die sie selbst oder andere mühsam aufgebaut hatte und die sie nicht kaputt machen wollte. Es kann so aussehen, dass junge Menschen weglaufen, durch Reize plötzliche Handlungsimpulse bekommen, die sie (manchmal) nicht unterdrücken können.
Es kann so aussehen, dass eine Person nicht zeigen kann, dass sie etwas gar nicht mag, weil sie den eigenen Körper nicht weg manövrieren kann. etc.
Ohne ausreichendes Wissen merken das Außenstehende nicht und nehmen an, dass das Verhalten oder die Aussagen bzw. das Ausbleiben von Aussagen/Handlungen intentional ist. Aufgrund von Informationslücken werden andere Erklärungen gefunden.
"Ist so aggressiv", "weiß nicht, wann es zu viel wird", "versteht (Gesagtes oder Sachverhalte) nicht", "ist unempathisch" "versteht soziale Situationen nicht"Situationen falsch", "erkennt Menschen nicht", "hat intellektuelle Behinderungen", "macht alles kaputt" "ist übergriffig" "macht immer weiter" "will ärgern und stören".
Oft werden dabei weitere Annahmen über Beweggründe gemacht.
Viele (junge) Menschen mit weniger ausgeprägten Formen von neuromotorischen Differenzen und Disinhibitionen merken ohne entsprechende Unterstützung und Erklärung gar nicht, warum sie etwas gemacht haben und können nicht erkennen oder erklären, dass Handlungen nicht intentional waren. Sie wissen ebenfalls nicht, dass es sein kann, dass ihre Körper manchmal ungünstig kooperieren und übernehmen die Erklärungen des Umfelds.
Menschen mit sogenannter "develomental neuromotor apraxia", einer angeborenen Form von Apraxie, die bisher im Kontext von autistischen Personen (nicht-sprechenden) Personen erforscht wird haben nicht zuverlässig Zugang zu intentionalen Handlungen. Selbst Personen, die situativ komplexe feinmotorische Handlungen ausführen können, können in diesem Sinne apraxisch sein.
Unter Dyspraxie werden unterschiedliche Ausprägungen von Schwierigkeiten der Planung und Durchführung neuer Bewegungsabläufe (Sprache/Geräusche gehören dazu) verstanden, die ebenfalls durch sensorische Verarbeitung bedingt sind. Dyspraxie wirkt sich u.a. aus auf emotionale Verarbeitung, Fein- und Grobmotorik, Zeitempfinden und Zeitplanung, Verarbeitung von Aufgabenstellungen, exekutiven Funktionen bzw. dem Beginnen/Beenden von Vorhaben, verbaler Kommunikation, visuelle Verarbeitung, Koordination, etc.
Motorische Disinhibitionen bedeuten, dass Personen situativ spontane Handlungsimpulse nicht effektiv unterdrücken können. Motorische Disinhibitionen treten nicht nur bei Tourette's Syndrom oder Tics auf, sondern auch in Form von plötzlichem Werfen, Schießen, Spucken, Lachen, auf Personen Springen, etc.
(Ausgeprägte) motorische Differenzen stellen ein „brain-body-disconnect“, eine Unterbrechung zwischen Idee und Ausführung, dar und stehen nicht mit kognitiven Verständniskompetenzen in Zusammenhang. Dennoch werden bei Personen mit (ausgeprägten) Formen/Kombinationen von motorischen Differenzen häufig mangelnde kognitive Verständniskompetenzen in Bezug auf soziale Normen, Empathie und Regeln, oder in Bezug auf kognitivie/intellektuelle Fähigkeiten vermutet - und durch Intelligenztests, die diese Barrieren nicht berücksichtigen, vermeintlich bestätigt.
Sensorische Wahrnehmung geht Handlungsplanung und – Ausführung voraus und begleitet diese. Das bedeutet, dass sensorische Dysregulation, Überreizung oder sensorische Traumata Auswirkungen von neuromotorischen Differenzen verstärkend beeinflussen oder neuromotorische Disinhibitionen verstärken.
Zusätzlich können sich chronische Erkrankungen (wie Ehlers-Danlos-Syndrom, Fibromyalgie, Migräne und andere Schmerzsyndrome, Erkankungen des autonomen Nervensystems, nicht-fokale epileptische Anfälle, die wie Affektausdrücke wirken) darauf auswirken, ob eine Person eine Tätigkeit beginnen kann, ob sie eine Handlung stoppen kann, eine Position wechseln kann, etc.
Handlungen, Geräusche und Aussagen - oder das Ausbleiben von Handlungen oder das Weiterführen von Handlungen - sind nicht immer Ausdruck der Intentionen von Personen.
Bei Berücksichtigungen von möglichen neuromotorischen Differenzen ist allerdings zu beachten:
Die Kombination von Adultismus, Neuronormativität (Zentrieren von typischer Neurodivergenz als Ausgangspunkt) und Ableismus bedeuten für junge autistische Menschen, PDAer*innen und Personen mit Aufmerksamkeitsdifferenzen/AD(H)S, dass ihr Umfeld bestimmt, was in ihrem Interesse sein soll, und damit oft falsch liegt.
Eine Berücksichtigung von neuromotorischen Differenzen darf nicht als Rechtfertigung genutzt werden, dass Wünsche und Aussagen von jungen Menschen weiterhin ignoriert werden oder dass das Umfeld entscheidet, welche Handlungen intentional und welche nicht in ihrem Interesse sind.
Vielmehr muss eine solche Berücksichtigung zu der ständigen Reflexion führen, dass unsere Wahrnehmung und Einschätzung der Intentionen anderer und der Hintergründe von Verhalten nicht stimmen könnten. Dies ist besonders der Fall, wenn wir selbst keine entsprechenden Differenzen haben, Personen nicht gut kennen, einen anderen Neurotyp haben, nicht fundiert sensomotorisch und Neurodivergenz-informiert sind. Es sollte auch berücksichtigt werden, dass Menschen oft erst erkennen und mitteilen können, wenn Handlungen und Aussagen nicht intentional waren - oder intentionale Handlungen und Aussagen ausblieben - wenn ihnen respektvoll Informationen über neuromotorische Differenzen zugänglich gemacht wurde und sie - in Medien oder im Umfeld - von von anderen Personen mit ähnlichen Differenzen erfahren.
Aus der Bildungsarbeit der entsprechenden Communities und der auf diesen aufbauenden, ND-bestätigenden Fachpraxis, haben wir allerdings eine Bandbreite an Hinweisen und Good-Practice Beispielen, die als empowernd vorgestellt werden, so wie Einordnungen von Praktiken, die hindernd bis schädlich sind.
Ich interessiere mich sehr dafür, wie solche Unterstützung Adultismus-kritisch, unter Berücksichtigung von Barrieren und verschiedenen Anforderungsdynamiken, PDA-informiert und mit einem Fokus auf selbstbestimmtem Lernen stattfinden kann, so dass junge neurodivergente Personen sie im (co-)reguliertem, sicheren Zustand erleben können.
Information und Zugang zu - tatsächlich respektvollen, nicht compliance-basierten - Unterstützungsmöglichkeiten für Personen mit neuromotorischen Differenzen liegen mir aus persönlichen Gründen besonders an Herzen.