PDA informiert
PDA - Uneinigkeit über Bezeichnungen
Das aktuelle Verständnis zu PDA wird wesentlich durch kollektive Arbeit von (Fach-)Personen und Lived Experience Educatorn mit PDA Profil geprägt. Ein Gegenstand dieser Arbeit ist die Bezeichnung des Profils selbst.
Ich ordne mich diesem PDA Profil zu und gehöre zu den PDAer*innen, die der Meinung sind, dass die derzeitig offizielle Bezeichnung nicht nur unnötig abwertend ist, sondern Erfahrungen auf einen weniger zentralen Aspekt reduziert. Ich finde sie zusätzlich nicht passend, weil es außerhalb des PDA Profils unterschiedliche Arten von - auch sehr ausgeprägter - demand avoidance bzw. Anforderungsvermeidung gibt. Einige präferieren die Englische Selbstbezeichnung "Pervasive Drive for Autonomy" - die auf Deutsch mit "Durchgängiger Drang nach Autonomie/Selbstbestimmtheit" übersetzt werden könnte. Andere schlagen, teilweise ausgehend von zunehmend besserem Verständnis der Neurologie, andere Bezeichungen vor.
Ist PDA anerkannt?
Für PDA gibt es noch keinen eigenständigen Diagnoseschlüssel im ICD-11 oder dem DSM-V, so dass PDA bisher global als ein (eigenständiges) autistisches Profil diagnostiziert wird. In Deutschland berücksichtigen aktuell nur vereinzelte Fachärzt*innen Präsentationen des Profils im Rahmen einer Autismus-Diagnostik.
Die Einordnungen von PDA wurden ursprünglich vor allem von Eltern ohne (erkanntem) PDA-Profil und außenstehenden Fachpersonen vorangetrieben. Heute findet ein wichtiger Teil der Wissensproduktion und Diskussion in Neurodivergenz-informierten digitalen Räumen, und vorranging durch Personen mit einem (fachärztlich bestätigten oder selbst erkannten) PDA-Profil statt. PDAer*innen arbeiten dabei teilweise eng zusammen mit Forscher*innen, geben Fortbildungen, kollektiv gesammelten Input zu Diagnostikfragebögen, erstellen eigene Werkzeuge und erarbeiten vor allem maßgeblich PDA-informierte Strategien und Einordnungen.
Verschiedene Meinungen über PDA
Die Uneinigkeit innerhalb der Neurodiversitätsbewegung in Bezug auf PDA resultiert meiner Einschätzung nach daraus, dass unterschiedliche Konzepte von PDA durchaus diskrimierende Aspekte beinhalten. Die in diesem Sinne diskriminierungskritisch informierten, kritischen Positionen lassen sich im Wesentlichen wiefolgt zusammenfassen:
1) Kritik an der Einordnung als autistisches Profil
PDA wird teilweise/oft ausschließlich als ein bestimmtes autistisches Profil besprochen. Während ein großer Teil der Neurodivergenz-informierten Bildungsarbeit einerseits aufzeigt, dass Einteilungen von autistischer Neurodivergenz in (von außen bestimmte) Abstufungen oder Subkategorien problematisch sind, soll PDA doch ein separates, autistisches Profil darstellen. Ein Teil der Kritik an (bestimmten) Konzepten eines PDA Profils richtet sich nicht gegen PDA als Neurodivergenz im Ganzen, sondern gegen die Einordnung von PDA als autistischem Profil. Ein wichtiger Teil dieser Kritik und Bildungsarbeit kommt von PDAer*innen selbst, darunter von renommierten Lived Experience Educatorn, die durch umfangreiche Umfragen und Auswertungen, Publikationen und Bildungsarbeit maßgeblich zum wachsenden Verständnis von PDA beitragen.
Im Wesentlichen wird hier herausgearbeitet, dass viele PDAer*innen zwar auch autistisch sind, aber dass die Einordnung als autistisches Profil fälschlicherweise abgeleitet wird, weil PDA bisher ausschließlich bei autistischen Personen erforscht worden ist. Viele PDAer*innen scheinen ebenfalls AD(H)S/Aufmerksamkeitsdifferenzen zu haben. In diesem Sinne wird gefordert, dass PDA unabhängig von autistischer Neurodivergenz erforscht wird. Da Konzepte von PDA jedoch häufig in Abgrenzung zu autistischer Neurodivergenz verhandelt werden, halte ich es dennoch für wichtig, dass sie auf aktuellem, fundiert Neurodivergenz-informiertem Verständnis von autistischer Neurodivergenz, sowie weiterer Neurodivergenzen basieren.
2) Kritik, dass Ideen eines PDA Profil auf einer Pathologisierung autistischer Neurodivergenz beruhen
Einige autistische Personen, darunter etablierte Lived Experience Educatorn und Forscher*innen mit fundierten Kenntnissen im Sinne des Neurodiversitätsparadigmas, sind der Ansicht, dass PDA kein separates Profil darstelle, und dass ein solches Profil nur notwendig erscheine, wenn autistische Neurodivergenz weiterhin pathologisierend und nicht-zutreffend verstanden werde.
Diese Schlussfolgerungen rühren zum Teil auf wichtiger Kritik von diskriminierenden Annahmen, auf denen einige Konzepte von PDA beruhen.
Frühere Ideen separater Profile, Stufen oder Phänotypen
In der Vergangenheit hat defizitäres, nicht-zutreffendes Verständnis von autistischer Neurodivergenz zu Annahmen über unterschiedliche Stufen oder separate Phänotypen (wie einen "weiblichen Phänotyp von Autismus") geführt, die durch kollektive autistische Bildungsarbeit und Forschung zusätzlich korrigiert werden.
Als Beispiel: wenn "Autismus" gegendert als Präsentation eines „extrem männlichen“ Gehirns mit einem inhärenten Mangel an sozialer Motivation, Empathiefähigkeit und Kreativität, mit Kommunikationsdefiziten, monotoner Prosodie und Mimik verstanden wird, passen viele autistische Personen nicht in dieses Verständnis.>
Wenn unter anderem durch die Arbeit der Neurodiversitätsbewegung deutlich wird, dass auch Menschen anderer Gender und Präsentationen autistisch sind, könnten die ursprünglichen Annahmen aktualisiert werden. Wo das nicht passiert, können Ideen über ein separates Profil oder Phänotyp sinnvoll erscheinen.
Ein Verständnis von autistischer Neurodivergenz, das fundiert Neurodivergenz-informiert ist, und das auf aktueller, Neurodivergenz-bestätigender Forschung, kollektiver Arbeit und Praxis basiert, unterteilt aus wichtigen Gründen nicht in Subtypen ein, sondern eröffnet passendere Möglichkeiten, unterschiedliche Diskriminierungs- und Behinderungserfahrungen zu erfassen.
Einwände, dass PDA bestimmte Präsentationen autistischer Neurodivergenz beschreibt:
Einige autistische Personen und Forscher*innen argumentieren, dass aktuelle Konzepte von PDA eigentlich Personen beschreiben, die einfach seien und nach dem Neurodiversitätsmodell als autistisch erkannt würden, die aber durch Fachpersonen in ihrem Umfeld bisher nicht als autistisch erkannt würden, weil diese noch pathologisierend, defizitär informiert und nicht auf aktuellem wissenschaftlichen Stand informiert seien.
Nach dieser Positionierung beschreibe PDA vor allem autistische Personen (ohne separetes PDA Profil), deren Präsentation nicht mit stereotypen und überholten Annahmen über autistische Personen einhergehen, weil sie u.a.
- extravertiert wirken; die auf andere Personen zugehen oder die auf Ansprache/Anspielen nicht abweisend reagieren; die soziale Situationen und Kommunikation durchaus kompetent navigieren; die soziale Interessen haben, die gerne mit anderen Personen zusammen sind; also autistische Personen, deren Kommunikation und soziales Verhalten sich nicht mit überholten, stereotypen Einordnungen von autistischen Personen decken;
- sich phasenweise dem Umfeld anpassen (masking) und dadurch sozial kompetenter wirken, als defizitäre Modelle das autistischen Personen zusprechen
- phantasievoll sind, eine bildliche Vorstellungskraft haben und Rollenspiele spielen,
- die aufgrund einer Vielzahl an möglichen Gründen – darunter u.a. aufgrund sensorischer Invalidierung, autistischem Burnout, Schwierigkeiten mit exekutiven Funktionen und anderen Faktoren - (starke) Anforderungsvermeidung erleben.
Tatsächlich sind Konzepte von PDA, die auf solchen Abgrenzungen zu autistischer Neurodivergenz basieren, problematisch und diskrimierend. Sie gehen von denselben Theorien und Annahmen aus, die seit fast 40 Jahren im Rahmen des Neurodiversitätsmodells überzeugend korrigiert wurden und werden:
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Autistische Personen hätten inhärente Defizite in sozialen Dynamiken und daher keinerlei kommunikative oder soziale Kompetenzen (-->stimmt nicht pauschal, Schwierigkeiten entstehen u.a. aus einem Zusammenspiel aus Barrieren und Bias in der Umwelt, Invalidierungserfahrungen, Kommunikationsdifferenzen, nicht-erkannten sensorischen und motorischen Faktoren)
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Autistische Personen hätten kein Interesse an sozialer Interaktion (-> stimmt selten/nicht und autistischer Personen können externalisierend bis internalisierend, extravertiert bis intravertiert präsentieren, aber sensorische Traumata, Invalidierung, nicht-erkannter Burnout und nicht-erkannte Barrieren führen zu Rückzug),
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Autistische Personen hätten ausschließlich technische Interessen -> stimmt nicht, autistische Personen haben unterschiedliche Interessen; diese Annahmen gehen zurück auf Konzepte von Autismus als Störung, die bei (weißen) Jungen (und später Männern) auftrete und einen Mangel an sozialer Motivation und Imagination bedeute.
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Autistische Personen hätten keine Imagination oder Phantasiefähigkeit hätten (-> stimmt nicht - beruht auf sehr frühen, dehumanisierenden Beoachtungen von kleinen, autistischen Population im Ausnahmezustand; autistische Personen liegen auf dem Phantasiespektrum zwischen Aphantasie (= keine bildliche Vorstellung) und Hyperphantasie (=äußerst realistische, überwältigende bildliche Vorstellung); autistische junge Menschen spielen unterschiedlich kreativ, unter anderem auch (ausprägt) Rollenspiele (oft jedoch anders, z.B. wiederholend, gescripted).
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Autistische Personen könnten problemos Anforderungen und Regeln befolgen, solange sie deutlich formuliert und gegebenfalls visualisiert würden --> solche Annahmen erkennen nicht, was hinter dem Bedarf von Vorhersehbarkeit und selbstbestimmten Routinen autistischen Personen steckt; solche Annahmen erkennen ebenfalls nicht, dass auch autistische Personen ohne PDA Profil - und besonders junge autistische Personen - aus verschiedenen Gründen häufig Anforderungsvermeidungen erleben.
Tatsächlich gingen erste Entwürfe eines PDA Profils von Eltern junger Menschen aus, die aufgrund entsprechender Präsentationen und aufgrund unterschiedlicher Dynamiken von (nicht-verstandenen) Anforderungsvermeidungen, sowie aufgrund von (nachvollziehbarer) Abwehr auf extern auferlegte Zeitpläne nicht als autistisch erkannt wurden, bzw. deren Bedarfe nicht mit pathologisierenden Therapieentwürfen oder pädagogischen Maßnahmen gedeckt wurden.
Auch heute - und aktuell im deutschsprachigen Raum - basieren viele Befürworter*innen eines PDA-Profils und einige renommierte PDAer*innen selbst ihre Argumentationen - teilweise unbewusst - auf einer Abgrenzung zu autistischer Neurodivergenz, die auf dehumanisierenden und überholten Annahmen basieren.
Konzepte eines PDA-Profils, die auf solchen Abgrenzungen basieren, wären in der Tat ebenso kontraproduktiv, rückschrittlich und problematisch, wie andere Vorschläge für vermeintlich neue autistische Profile (wie das "Asperger Syndrom" oder der "weibliche Phänotyp").
3) Pathologisierung von notwendigen Abwehrreaktionen
Ein weiterer, wichtiger Aspekt der Kritik bezieht sich auf die Pathologisierung von Widerstand bzw. (überlebens)wichtige Stress- und Abwehrreaktionen von jungen neurodivergenten Menschen. Implizit wird hier deutlich herausgearbeitet, dass die hier zutage tretende Mischung von Ableismus und Adultismus entsprechend neurodivergente junge Menschen einer besonderen Vulnerabilität aussetzt:
PDA wurde primär aus der Sicht von Eltern und dem Umfeld junger Menschen, sowie aus der Perspektive von Fachpersonen, die deren Sicht zentrierten, formuliert. Vor allem in früheren Texten, aber durchaus auch heute noch, tauchen gerade im Kontext von jungen PDAer*innen Zuschreibungen von - in pathologischen Ausmaß - "kontrollierend" und "manipulativ" auf.
In Bezug "Manipulation" spielt hier zum einen die Intention einer Abgrenzung zu autistischen jungen Menschen rein: Bis vor wenigen Jahren war in englischsprachigen Ressourcen über PDAer*innen nach Beschreibung ihrer vermeintlichen Manipulativität und Kontrollversuche oft noch ein Zusatz zu lesen, dass sie (implizit in Abgrenzung zu autistischen Personen) „aber“ auch charmant sein könnten.
Zentral ist jedoch ein anderer Aspekt:
Wenn
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Barrieren in (strukturellen) Anforderungen des Alltags – einschließlich an Familien der jungen Menschen – nicht ausreichend erkannt werden,
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Eltern/Familienmitglieder gegenüber dem Umfeld, Fachpersonen, Schule, etc. in starke Erklärungsnot bzw. (nicht-umsetzbaren) Handlungsdruck kommen in dessen Folge Hilflosigkeit aufkommt
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es an Neurodivergenz-basierten, Adultismus- kritischen Einordnungen, Kompetenzen Strategien im Umfeld fehlt, und
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Machtungleichheiten zu Ungunsten der jungen Menschen ignoriert werden (also wo ignoriert wird, dass junge neurodivergente Menschen keine reale Kontrolle über ihren Alltag oder Macht über ihre Eltern haben, auch wenn diese sich phasenweise ohnmächtig fühlen können)
kommt es zu einer Verantwortungsverschiebung und umgekehrten Darstellung der Machtungleichheit:
Ein – als krankhaft dargestellter und Kontext-unabhängiger – Kontrolldrang von jungen PDAer*innen gepaart mit vermeintlich entwaffnenden manipulativen Tendenzen werden als ursächlich positioniert.
Konzepte eines PDA Profils, das relevant für junge und ältere Personen ist, müssen die zusätzliche Vulnerabilität von jungen PDAer*innen Adultismus-informiert anerkennen.
Das Potenzial eines Adultismus kritischen, Neurodivergenz-informierten Verständnisses von PDA
Zumindest im internationalen oder Englisch-sprachigen Kontext werden Erkenntnisse und Gedanken zu PDA als Neurodivergenz inzwischen nicht mehr primär von Angehörigen und Außenstehenden, sondern von (größtenteils autistischen) PDAer*innen selbst, die häufig zusätzlich fundiert zu autistischer Neurodivergenz informiert sind, kollektiv zusammengetragen. Darunter nehmen Eltern Neurodivergez-informierte PDAer*innen, die Eltern junger PDAer*innen sind, einen wichtigen Platz ein.
Dieser Prozess ist durchaus heterogen und beinhaltet zum jetzigen Zeitpunkt unterschiedliche Positionierungen.
Bedeutend ist dabei, dass viele Personen mit einem fundiert Neurodivergenz-bestätigenden Verständnis von autistischer Neurodivergenz, darunter etablierte autistische Forscher*innen, Fachpraktiker*innen und Lived Experience Educator, die wesentlich zu der Dekonstruktion von defizit-basierten Einordnungen von autistischer Neurodivergenz beitragen, wichtige Aspekte ihrer (ausgeprägten) zusätzlichen Behinderungserfahrungen, Bedarfe und spezifischen Barrieren nur in diesen erarbeiteten Konzepten von PDA angemessen erfasst sehen.
Viele von ihnen erleben unterschiedliche Dynamiken von zum Teil intensiver Anforderungsvermeidung, aber verstehen eine bestimmte Dynamik von Anforderungsvermeidung als PDA-spezifisch und deutlich anders.
Für sie ist PDA eine sehr nützliche, notwendige Art, Aspekte ihrer Identität zu beschreiben, Erfahrungen zu teilen und unter Peers Lösungen und gemeinsames Wissen zu produzieren.
Oder anders:
Auch wenn unser Verständnis von autistischer Neurodivergenz (junge) Menschen einschließt, die gerne und ausgiebig Rollenspiele spielen, die phantasievoll, kontaktfreudig oder lustig sind, die soziale Interessen haben, die abwehrend auf auferlegte Zeitpläne und Anforderungen reagieren;
auch wenn wir verschiedene Dynamiken, Ausprägungen und Ursachen von Anforderungsvermeidung bei unterschiedlichen Neurodivergenzen erkennen und berücksichtigen;
auch wenn wir PDA als eigenständige Neurodivergenz, und nicht als autistisches Profil begreifen;
auch - oder vor allem wenn wir Stress- und Abwehrreaktionen neurodivergenter junger Menschen Adultismus-informiert einordnen:
Bestimmte zusätzliche Behinderungserfahrungen, Barrieren und Bedarfe einer neurodivergenten Personengruppe werden derzeit am ehesten durch ein - möglichst diskriminierungskritisches - Verständnis von PDA angemessen erfasst.
Wo PDA diskriminierungskritisch, Adultismus berücksichtigend und Neurodivergenz-bestätigend verstanden wird, erarbeiten vor allem PDAer*innen selbst kollektiv ein (Selbst)Verständnis, sowie eine neue Fach(Praxis) und Umfeldarbeit, die auf validierenden, kompetenten, empowernden und vor allem respektvollen Strategien beruhen. Unter diesen PDAer*innen nehmen Eltern , deren Kinder ebenfalls ein PDA Profil haben, häufig eine besonders relevante Position ein.
Hier reihe ich mich ein.
PDA-informiert
Ich identifiziere mich als PDAer*in und begleite in meinem persönlichen und beruflichen Alltag junge Menschen, deren Unterstützungsbedarfe ich als PDA spezifisch einordne.
Meine Arbeit ist PDA-informiert, Adultismus- und Machtkritisch, gestützt auf aktuelle theoretische Grundlagen, Austausch mit Community und Forschenden (einschließlich zu Überarbeitungen von Diagnostikfragebögen) und auf gelebter Erfahrung.