Woher kommt das Neurodiversitätsparadigma

Es existieren einige Missverständnisse rundum das Neurodiversitätsparadigma, die unter anderem aus verkürzten oder fehlerhaften Darstellungen resultieren.

Unter anderem wird oft angenommen, dass es sich um ein neues Phänomen (Trend) handelt. Es wird ebenfalls angenommen, dass es sich um eine Haltung/Bewegung handle, die von akademisierten neurodivergenten Personen mit geringen Unterstützungsbedarfen konzipiert wurde, für Personen mit größeren Unterstützungsbedarfen nicht nützlich sei, und nur für autistische Personen und Personen mit AD(H)S/Aufmerksamkeitsdifferenzen gelte. Manchmal wird es so verstanden, dass es Behinderung negiert.

Damit einher geht, dass die tatsächlichen Strategien des Neurodiversitätsmodells nicht oder verkürzt bekannt sind und die detaillierte, fundierte Bandbreite an Theorien, fachpraktischen Modellen, existierenden Erfahrungen und Ressourcen nicht bekannt sind.

Die Neurodiversitätsbewegung und ihre Strategien sind organisch aus einer dringenden Notwendigkeit heraus und mit direktem Praxisbezug entstanden, und es wurde für neurodivergente schnell deutlich, dass diese Strategien deutlich, wirksamer, nachhaltiger und empowernder sind:

Vor fast 40  Jahren kamen autistische Menschen online und offline erstmals zusammen. Sie trafen und erlebten erstmals andere autistische Menschen, andere Menschen, über die ähnliches gesagt wurde, wie über sie selbst. Hier geschah viel. Aus den Treffen ergaben sich organisch und aus der Notwendigkeit heraus spätere Grundstrategien des Neurodiversitätsmodells.

Sie erlebten erstmals Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Validierung und Sicherheit auf eine für sie neue Art. Sie fühlten sich erstmals nicht fremd mit anderen Menschen, fühlten sich verstanden und dazu gehörend. Sie erlebten erstmals, dass es validierend und heilsam ist, die eigenen, natürlichen Kommunikationsformen, Bewegungen und Reaktionen in anderen wiederzuerkennen.

1: Peer-Unterstützung/Neurokultur

Erst durch Treffen auf andere autistische Personen stellten sie fest, dass gängige Annahmen und Aussagen über sie selbst nicht zutrafen. "Du bist ja gar nicht so, wie gesagt wird. Dann bin ich es vermutlich auch nicht". Sie merkten, dass der Austausch  untereinander und mit dem nicht-autistischen Umfeld darüber, welche Annahmen inwiefern nicht stimmten, sehr wichtig war.

Bei Treffen und Austausch erkannten autistische Personen Sachen, die Außenstehende nicht über sie erkannten, die ihnen als sehr wichtig erschienen und ihnen halfen, sich selbst und einander besser zu verstehen.

2: Korrektur/Bildungsarbeit

Dadurch fanden sie gemeinsam bessere Lösungen mit selbstbestimmter Teilhabe – für sich selbst, für einzelne Personen und für das Miteinander. Treffen, Austausch, Reisen wurden machbarer. Ursachen für Überreizung und Akkumulation von Belastungen konnten vermindert werden, passende und nachhaltige Lösungen für überreizte Personen oder Personen mit mehr Unterstützungsbedarf  gefunden. Es ging ihnen besser, sie erlebten mehr Teilhabe und vorher als unvereinbar dargestellte, unterschiedliche Bedarfe konnten gemeinsam besser gedeckt werden.

3: Umfeldarbeit/Praxis

Die Grundlagen wurden gelegt

Die Grundlagen für das spätere Neurodiversitätsparadigma wurden bereits gelegt, der Grundsatz, dass das Umfeld bestimmt, welche Möglichkeiten oder Barrieren autistische Personen haben, erkannt (Autism + Environment = Outcomes).

Die Treffen und Erkenntnisse wurden möglich aufgrund vorhergehender Behindertenrechtsbewegungen und führten zu weiteren Behindertenrechtsbewegungen. Das Ziel war und ist politisch: den Status Quo durch Korrektion dehumanisierender Annahmen, Bildungsarbeit und bessere Strategien zu ändern.

Aufbauend auf den bisherigen Strategien und unter Anerkennung und Federführung/Berücksichtigung der Expertise der jeweiligen Neurominderheiten kam später eine 5. Richtung hinzu:

 

Autistische und anders neurodivergente Akademiker*innen  bestätigen das kollektiv generierte Wissen in Forschung und Lehre (Neurodivergenz-bestätigende Forschung).

4: ND-bestätigende Forschung

Autistische und anders neurodivergente Diagnostiker*innen, Ärzt*innen,  Therapeut*innen und Pädagog*innen bauen die Standards für Umfeldarbeit mit engem Austausch in eine breite, respektvolle und deutlich andere Fachpraxis um (Neurodivergenz-bestätigende Fachpraxis).

5: ND-bestätigende Praxis