Hintergründe von Selbst- oder fremd-verletzendes Verhalten
Sensomotorische Differenzen wirken sich darauf aus, ob wir unseren Körper und unsere Stimme zuverlässig so bewegen können, wie wir das möchten.
Wenn sensorische Verarbeitungsdifferenzen bei jungen Menschen nicht verstanden werden, führt das dazu, dass das Umfeld nicht ausreichend erkennt, wenn sie sensorisch dysreguliert sind oder sensorische Schmerzen erleben.
Bereits das Fehlen von Validierung, also das Ausbleiben der Bestätigung "es könnte sich gerade xyz anfühlen" und das Fehlen von Modelling "x empfindet unebenen Boden auch als äußerst unangenehm, und x läuft deswegen nur springend über diesen Boden und deswegen muss X sich danach ausruhen, das könnte ich auch so machen" führt dauerhaft zu einer Dissonanz zwischen dem eigenen Erleben und der Reaktion des Umfelds. Wenn die Reaktionen des Umfelds nicht zu unserem eigenen Erleben passt und wenn wir nie Reaktionen mitbekommen, die zu unserem Erleben passen oder uns vorgemacht wird, wie wir unser Erleben erkennen und beschreiben können, können wir es oft selbst nicht erkennen oder verstehen.
Dazu kommt, dass - vor allem junge - neurodivergente Menschen häufig sensorische Invalidierung erleben: "das tut nicht weh", "da ist kein [Nahrungsmittel] drin", "ist doch nur Wasser/Dreck", "das ist doch nicht so schlimm", etc.
Das Umfeld erkennt nicht, dass sensorisches Erleben sehr unterschiedlich sein kann und hat wenig Informationen darüber, dass normabweichende sensorische Verarbeitung das Leben von neurodivergenten Menschen sehr stark beeinflussen kann. Deswegen nimmt das Umfeld an, dass die eigene Wahrnehmung auch für andere Personen gilt. Oft versucht das Umfeld (obwohl das auch für typische junge Menschen nicht empfehlenswert ist), junge Menschen dazu zu kriegen, Situationen und Erlebnisse doch noch auszuhalten, weil es denkt, dass es sich dadurch schon daran gewöhnen (habituieren) wird. Oder es übergeht Abwehrreaktionen, weil es gar nicht erkennt, dass es Abwehrreaktionen sind und welche wichtige Funktion sie haben.
Entgegen der gängigen Stereotype bekommen viele junge neurodivergente Personen mit, wenn das Umfeld sich anderes Verhalten wünscht, und sie bekommen mit, wenn das Umfeld verwirrt, unzufrieden, gestresst oder wütend über ihre Bedarfe und Verhalten sind und ihre Reaktionen frustrierend finden.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse von autistischen Personen ist, dass autistische Personen - häufig unbewusst - Reaktionen und Verhalten unterdrücken, dass vom Umfeld nicht erwünscht ist. Wenn Masking verkürzt verstanden wird, wird es als wird intentionale Strategie von bestimmten autistischen Populationen beschrieben. Masking stellt jedoch einen (oft unbewussten, automatisierten) Schutzmechanismus dar, der vergleichbar mit temporären Schutzmechanismen von anderen diskriminierten Gruppen ist, die sich zum Selbstschutz temporär und auf Kosten des psychischen Wohlbefindens an die Anforderungen des Umfeld anpassen (Unterdrückung der eigenen trans Identität, Homosexualität, etc).
Autistische Personen aller Gender und Altersgruppen, einschließlich autistischer Säuglinge und Kleinkinder, masken. Dauerhaftes Masking steht in Verbindung mit schlechtem psychischem Wohlbefinden, Suizidalität, erhöhter Reizsensibilität, Erschöpfung und Schwierigkeiten in exekutiven Funktionen, sowie Verlust von Kompetenzen.
Wenn junge Menschen häufig Invalidierung - oder eben keine Validierung - erleben und regelmäßig sensorischen Stressoren und unpassenden Anforderungen ausgesetzt sind, kommt es zu einer Akkumulation, einem neurodivergenten Burnout. Oder junge Menschen sind sehr häufig sensorisch dysreguliert.
Gerade dann treten impulsive Handlungen oder Geräusche, die der Mensch nicht intendierte, häufiger auf.
Selbst- oder fremdverletzendes Verhalten und Zerstören oder Zerschmeißen von Sachen ist oft ein Ausdruck solcher neuromotorischen Differenzen in Kombination mit anderen Stressoren.
Sogenannte "Top-Down" Ansätze, also Ansätze, die auf kognitiver Ebene ansetzen (Erklärungen, Bestrafung, Anschreien, Ignorieren, Beschämen, etc.), gehen nicht nur an tatsächlichen Bedarfen vorbei bzw. haben oft sogar hindernde oder gegenteilige Wirkung und führen zusätzlich zu mehr Scham. Für einige neuromotorische Differenzen (motor loops, Disinhibitionen) können direktive, negativ besetzte Ausrufe "Stop" "Hör auf" auf neuromotorischer - und nicht auf kognitiver - Ebene als Trigger für Handlungsausführungen sein. Genau dann kann ein Aufhören ohne informierte, angemessene Unterstützung kaum oder nicht möglich sein.
Je mehr wir über sensomotorische Differenzen und respektvolle Unterstützung für die Entwicklung von verlässlichen Handlungsplänen (orientiert daran, was die Person selbst sich wünscht) wissen, desto mehr Möglichkeiten können wir schaffen.