Was hat Neurodivergenz mit Diskriminierung zu tun

Diskriminierung hat viele Komponenten und Dynamiken.

Diskriminierungsdynamiken sind spezifisch, unterschiedlich und im Allgemeinen nicht miteinander vergleichbar, zumal viele Personengruppen Schnittpunkte (Intersektionen) verschiedener Diskriminierungsdynamiken erleben (z.B. erlebt eine rassifizierte trans Person unter anderem die Intersektion von Rassismus und Cisnormativität).

Unter der Berücksichtigung möchte ich eine generelle Komponente hervorheben:

Handabdruck aus bunten Farbkleksen und Farbverläufe mit viel Blau, Cyan, Magenta, Grün, Gelb, Rot, Schwarz und Weiß auf schwarzer Leinwand. Es handelt sich um bearbeitete Fotos von Bildern, die von einem jungen neurodivergenten Menschen gemalt wurden.
Handabdruck aus bunten Farbkleksen und Farbverläufe mit viel Blau, Cyan, Magenta, Grün, Gelb, Rot, Schwarz und Weiß auf schwarzer Leinwand. Es handelt sich um bearbeitete Fotos von Bildern, die von einem jungen neurodivergenten Menschen gemalt wurden.

Grundlage von Diskriminierungsdynamiken ist: "Die Mehrheitsgesellschaft" bzw. Personen außerhalb einer diskriminierten Gruppe haben abwertende Gedanken und Haltungen zu Personen aus der diskriminierten Gruppe. Diese Gedanken und Haltungen resultieren in ausschließenden, benachteiligenden und/oder ausbeutenden Handlungen, Strukturen oder Praktiken. Die hier nicht-diskriminierten Personen denken, dass ihre Gedanken nicht abwertend sind, sondern der Wahrheit entsprechen. Dieser Punkt ist wichtig, daher wiederhole ich ihn: Diskriminierung bedeutet, dass Personen, die in der jeweiligen Dynamik nicht strukturell diskriminiert werden, sich zunächst nicht vorstellen, dass "anderen" (geanderten) Personen nicht so sind, wie sie denken. Sie gehen davon aus, dass ihre Gedanken und Haltungen akkurat und ihre Handlungen, Strukturen und Praktiken gerecht sind. Dass die begleitende Forschung neutral und der rechtliche Rahmen gerecht ist. (Bsp.: Der Ausschluss von Frauen vom Wahlrecht wurde/wird begründet mit der Annahme einer kognitiven Unfähigkeit von Frauen, politische Dynamiken ausreichend zu verstehen).

Diskriminierung hat es an sich, dass es bei den in der jeweiligen Dynamik diskriminierten Personen zu Reaktionen kommt  - sie organisieren sich, werden wütend, protestieren, kreieren Druck und weisen auf unterschiedliche Arten darauf hin, dass die Annahmen nicht zutreffen, dass Handlungen, Strukturen oder Praktiken ausschließen. Häufig sind das Prozesse von politischer Arbeit, in der Menschen aufzeigen, dass sie dehumanisiert werden, aber die abwertenden Gedanken und Haltungen der nicht-diskriminierten Personen ermöglichen, dass sie die diskriminierten Personen als unsachlich und unverlässlich bewerten und ihnen die Kompetenz absprechen, ihre Erfahrungen angemessen zu erfassen. (Oft wird die Dringlichkeit bei den diskriminierten Personen als Bestätigung eben solcher Unsachlichkeit gewertet. Eine gängige Haltung (Derailing) könnte so wiedergegeben werden: "Sie sind unsachlich und emotional, das beweist, dass unsere Annahmen zutreffen und vernünftige Gespräche mit ihnen nicht möglich sind". Diskriminierten Personen wird die Deutungshoheit über ihre Erfahrungen abgesprochen (epistemologische Ungerechtigkeit, tone policing).

Diskriminierungsformen werden erst nach langjähriger politischer und Bildungsarbeit, Protesten, zivilen Widerstand und anderen kollektiven Methoden, die Verbündete ausserhalb der diskriminierten Gruppe überzeugen und zunehmend schwerer abzutun sind, von der Mehrheitsgesellschaft allmählich anerkannt. Oder anders. Die Anerkennung von Diskriminierungsdynamiken wird von den diskriminierten Personen (und später Verbündeten) erkämpft - jede Form von Diskriminierung, die heute mehrheitsgesellschaftlich - oder rechtlich - (ansatzweise) anerkannt wird, wurde lange Zeit abgestritten. Jede behindertenrechtliche Anerkennung wurde und wird von behinderten Personen erkämpft (wobei Ableismus weiterhin bedeutet, dass die tatsächliche Arbeit behinderter Personen für viele Menschen im Nachhinein unsichtbar gemacht wird). Viele Formen von Diskriminierung wurden lange nicht als solche erkannt, weil die diskriminierten Personen pathologisiert wurden - Rassentheorien sind hier schreckliche Beispiele, die Pathologisierung und "therapeutische Behandlung" von Homosexuellen und anderen LGBTQIA+ Communities (von denen einige weiterhin pathologisiert werden) sind weitere schmerzhafte Beispiele hierfür.

Die Neurodiversitätsbewegung ist eine Bewegung von diskriminierten Personen gegen ihre Diskriminierung - und auch hier wird negiert bzw. erscheint es vielen als nicht nachvollziehbar, dass es hier um Diskriminierung, falsche/abwertende Gedanken und Haltungen oder ausschließende Strukturen und Praktiken geht. Es erscheint vielen derzeit noch gar nicht nachvollziehbar, wie gravierend und umfänglich die Folgen solcher Haltungen und Praktiken sind, und inwiefern diese tatsächlich ursächlich für einige der wahrgenommenen Schwierigkeiten sind. Aber: Falsche mehrheitliche Annahmen über Menschengruppen haben gravierende Folgen, die nicht verstanden werden. Die Korrektur von Annahmen und Praktiken durch die Neurodiversitätsbewegung ist nicht nebensächlich oder kleinlich, sie bildet die Basis für eine Veränderung in Richtung sozialer Gerechtigkeit für autistische Personen.

Bunte Farbklekse und Farbverläufe mit viel Blau, Cyan, Magenta, Grün, Gelb, Rot, Schwarz und Weiß auf schwarzer Leinwand. Es handelt sich um bearbeitete Fotos von Bildern, die von einem jungen neurodivergenten Menschen gemalt wurden.
Bunte Farbklekse und Farbverläufe mit viel Blau, Cyan, Magenta, Grün, Gelb, Rot, Schwarz und Weiß auf schwarzer Leinwand. Es handelt sich um bearbeitete Fotos von Bildern, die von einem jungen neurodivergenten Menschen gemalt wurden.

Das Neurodiversitätsparadigma verharmlost Behinderung und Unterstützungsbedarfe nicht.

Weil diese Einwände häufig formuliert werden:

Das Neurodiversitätsparadigma ignoriert oder verharmlost  Behinderung und Unterstützungsbedarfe nicht - wie auch andere Bewegungen für soziale Gerechtigkeit von behinderten Personen sie nicht verharmlosen -  auch wenn einige neurodivergente Personen und Gruppen es so verstehen und präsentieren. Ebenso bedeutet es keine pauschale Ablehnung von Therapie,  sondern gezielte, begründete Kritik an fraglichen Zielen und Fachpraktiken.

Vielmehr bietet das Neurodiverstitätsparadigma einen Rahmen, in dem auf der Basis von fundiertem Einblick,  therapeutische (Fach)Praktiken entwickelt werden können, die von den tatsächlichen Wünschen und Bedarfen unterschiedlicher Neurominderheiten ausgehen. Es ermöglicht einen Rahmen für Fortbildungen und Beratung für interessierte (und reluktante) Fachpersonen außerhalb dieser Neurominderheiten.

Ebenso geht das Neurodiversitätsparadigma in keinster Weise mit einer Ablehnung von Forschung - nicht mal Genforschung im Ganzen - einher, sondern mit organisierten, fundierten Protesten gegen dehumanisierende Ziele, die auf problematischen Annahmen basieren und ohne Federführung der jeweils relevanten Neurominderheiten aus der Neurodiversitätsbewegung formuliert werden. Aus diesen Gründen werden - seit mehr als 30 Jahren, und ohne die Billionenschwere finanzielle Unterstützung, die defizit-basierte Forschung und Fachpraxis jährlich erhalten - zutreffende Theorien, mehr Einblick, und zahlreiche, passendere, nachhaltigere Lösungsansätze, Methoden und Strategien erarbeitet.