Sensorische Verarbeitungsdifferenzen, Barrieren, Trauma

Für wen sind Informationen über sensomotorische Prozesse relevant?

Sensorisches Wohlbefinden ist für viele Menschen relevant. Neurodivergenz-informiertes Verständnis in sensorische Verarbeitung und neuromotorische Abläufe ermöglicht bessere Handhabe und Unterstützung für junge Menschen, deren Abwehr, impulsives Verhalten, Stress, Schwierigkeiten oder augenscheinliche Verständnisschwierigkeiten mit sensomotorischen Faktoren zusammen hängen.

Dazu gehören nicht-sprechende Personen, Personen mit Down Syndrom, Personen mit intellektueller Behinderung, Menschen mit Irlen Syndrom oder Neurodivergenzen wie Dyspraxie, Dyskalulie, Dysgraphie, Dyslexie, etc.. Aber auch andere junge Menschen erleben Schwierigkeiten, Überforderung, Vermeidung/Abwehr, Impulsivität, Überreizung im Alltag - oder neuen Situationen - die mit nicht-ausreichend erkannten sensomotorischen Faktoren und Barrieren zusammen hängen.

Wie können sich sensomotorische Differenzen äußern?

  • wenn es so wirkt, als würden junge Menschen Aufgaben, Konzepte, Anweisungen oder Gesagtes nicht (richtig) verstehen
  • häufige Abwehr, Überreizung, Stress oder Schwierigkeiten im Alltag oder bei neuen Situationen in Bezug auf Übergänge, Rausgehen, Schlafengehen, An- und Ausziehen, Schuhe, Socken, Barfussein, Sand, Gras, Wind, Besteck, Essen und Essgeräusche, Hunger und Durst wahrnehmen, Ausscheidung, Körperpflege, Kratzer und oberflächliche Verletzungen, Lautstärken, Schaukeln, Rutschen, Sitzen-Bleiben, Positionswechsel (Aufstehen und etwas holen), alleine-spielen, mit-anderen-jungen-Menschen Spielen, etc.
  • Erhöhte Impulsivität, Gefahrenquellen nicht meiden, sehr häufiges Springen, Werfen, Purzeln, Wegrennen, Sachen umwerfen, (sich selbst oder andere) verletzen, sich im Kreis drehen, nicht im Sitzen essen, sitzend mit den Füßen gegen Oberflächen/Menschen, mit Konsistenzen Rummanschen, viel umwerfen/verteilen, direkt in Lichtquellen schauen, Handlungen organisieren, beginnen, durchführen, etc.
  • Erhöhter Bedarf an Begleitung, Sicherheit, Co-Regulation und Vorhersehbarkeit

Normabweichende sensorische Verarbeitung, neuromotorische Differenzen/Behinderungen und Einfluss auf Verhalten

Aktuelle Studien bestätigen, dass die meisten autistischen Personen (bis zu 90%) und Personen mit Aufmerksamkeitsdifferenzen/AD(H)S sensorische Verarbeitungsdifferenzen im Sinne einer Hyper- und/oder Hyposensibilität bzw. Sensory Seeking auf unterschiedliche Wahrnehmungsmodalitäten haben. Es gibt Hinweise, dass diese ein zentrales Merkmal autistischer Neurodivergenz sein könnten. Es wird häufig nicht (ausreichend) verstanden, wie sensorische Verarbeitungsdifferenzen sich auf Teilhabe, auf Zugang zu vorhandenen Ressourcen, auf Kapazitäten, Verhalten, Interaktionen etc. auswirken und welches Verhalten mit normabweichender sensorischer Verarbeitung zusammenhängen kann.

Studien bestätigen auch, dass die meisten entsprechend neurodivergenten Personen unterschiedliche Formen und Ausprägungen von motorischen /Bewegungs-Differenzen haben, die häufig mit sensorischen Verarbeitungsdifferenzen in Zusammenhang stehen, und durch die der Zugriff auf intentionale Handlungen situativ, regelmäßig oder durchgehend eingeschränkt ist. Diese hier relevanten motorischen oder Bewegungsdifferenzen sind in der Regel nicht bekannt, werden nicht erkannt, oder es wird nicht ausreichend verstanden, wie sie sich auf Handlungen, Kommunikation, Spiel und Interaktion auswirken.

Bunte Farbklekse und Farbverläufe mit viel Blau, Cyan, Magenta, Grün, Gelb, Rot, Schwarz und Weiß auf schwarzer Leinwand. Es handelt sich um bearbeitete Fotos von Bildern, die von einem jungen neurodivergenten Menschen gemalt wurden.
Bunte Farbklekse und Farbverläufe mit viel Blau, Cyan, Magenta, Grün, Gelb, Rot, Schwarz und Weiß auf schwarzer Leinwand. Es handelt sich um bearbeitete Fotos von Bildern, die von einem jungen neurodivergenten Menschen gemalt wurden.

Dieses Nicht-Erkennen oder Nicht-Verstehen führt zu nicht-zutreffenden Annahmen und entsprechend zu falschen Schlussfolgerungen, unpassenden Reaktionen und Ausbleiben von hilfreicher Unterstützung. Ein besseres Verständnis dieser Vorgänge, ihrer Präsentationen und Wirkungsweisen eröffnet geeignetere Unterstützungsmöglichkeiten und eine andere Basis für Interaktion.

Sensorische Verarbeitungsdifferenzen erkennen und angemessen unterstützen

Wir nehmen unsere Umwelt, unsere Mitmenschen und uns selbst über unsere sensorischen Systeme auf. Je nach Kategorisierung wird von sieben bis acht sensorischen Systemen bei Menschen ausgegangen: Neben dem visuellen (Sehen), auditiven (Hören), olfaktorischen (Riechen), gustatorischen (Schmecken) und kutanen/taktilen (Wahrnehmungen über die Haut) sind das das priopriozeptive System (Position des Körpers in Relation zu Raum, zu anderen Körpern/Gegenständen/Untergründen, Geschwindigkeit, Bewegung,etc., Verarbeitung über Mechanorezeptoren in Muskeln, Senen und Gelenken und bestimmten taktilen Repetoren der Haut), das vestibulare System (Koordination der Augen und des Kopfes im Raum, Information über die Körperposition in Relation zu Schwerkraft (liegend, stehend, fallend, etc.), Aufrechthalten des Kopfes) und das interozeptive System (körperinnere Wahrnehmung einschließlich Hunger, Durst, Harndrang, Schmerzen, Wohlbefinden, Gefühlszustände, Herzklopfen, Puls, etc.).

Sensorische Systeme filtern Informationen aus der Umwelt und dem Körperinneren und geben uns ein Gesamtbild darüber, ob wir in Sicherheit oder in Gefahr sind, beeinflussen Selbstverständnis im Verhältnis zu anderen und im Verhältnis zu Raum, sind eng verbunden mit dem Erleben von Selbstwirksamkeit, mit kognitiver Verarbeitung, Gefühlen, Affektregulation und emotionalem Wohlbefinden, sowie Handlungsplanung und – Steuerung.

Die meisten Umgebungen, Interaktionen, und Räumlichkeiten gehen von normativer sensorischer Verarbeitung aus, bzw: die Art und Weise, wie viele Menschen sensorisch verarbeiten, wird mitgedacht und als Standard angenommen. Hitzefrei ist eine kollektive Rücksichtsnahme auf den Einfluss von bestimmten Umgebungstemperaturen auf kognitive und andere Kompetenzen der Mehrheit. Wenn sensorische Verarbeitung normativ abläuft, fällt es Menschen in der Umgebung leicht, daraus entstehende Bedarfe zu erkennen, zu decken oder durch Validierung, Kompensation, verstehende Einordnung oder Hilfe zu unterstützen, wenn sie nicht gedeckt werden können. Viele aus normativer sensorischer Verarbeitung resultierende Bedarfe werden durch die Gestaltung von Abläufen, öffentlichen Räumen, Organisation von Abläufen etc. bereits mitgedacht und gedeckt.

Bunte Farbklekse und Farbverläufe mit viel Blau, Cyan, Magenta, Grün, Gelb, Rot, Schwarz und Weiß auf schwarzer Leinwand. Es handelt sich um bearbeitete Fotos von Bildern, die von einem jungen neurodivergenten Menschen gemalt wurden.
Bunte Farbklekse und Farbverläufe mit viel Blau, Cyan, Magenta, Grün, Gelb, Rot, Schwarz und Weiß auf schwarzer Leinwand. Es handelt sich um bearbeitete Fotos von Bildern, die von einem jungen neurodivergenten Menschen gemalt wurden.

Fast alle autistischen Personen und Personen mit Aufmerksamkeitsdifferenzen /AD(H)S (und sicherlich auch PDAer*innen) haben deutliche sensorische Verarbeitungsdifferenzen, insbesondere in Bezug auf Priopriozeption, Vestibuläre Verarbeitung und Interozeption. Sensorische Verarbeitungsdifferenzen bedeuten, dass abweichende sensorische Erlebnisse regelmäßig direkt invalidiert oder nicht ausreichend anerkannt und validiert werden. Das bedeutet auch, dass Personen (teilweise regelmäßig) sensorische Überreizung, sensorische Schmerzen und sensorische Traumatisierung erleben.

Sensorische Verarbeitungsdifferenzen können zu einem durch Neurodivergenz-informierten Einblick, Anerkennung, Berücksichtigung und Anpassung der Umwelt unterstützt werden, so dass Teilhabe unterstützt wird.
Zum anderen kann natürliche sensorische Integration in einem informierten, sicheren Rahmen unterstützt werden.

Ohne fundiert Neurodivergenz-bestätigenden Einblick, Adultismus-kritische Kenntnisse, sowie Erfahrungen mit selbstbestimmten Lernprozessen kommt es allerdings schnell dazu, dass unterstützende Personen ihre eigenen Wahrnehmungen und Erklärungen in die Intentionen und Erleben von jungen Menschen projizieren und diese überschreiben.