Videogespräch: Estin spricht mit Shona Murphy
Ein paar Worte zu FII, Parent Blame und den hiesigen Kontext
Anders als "Factitious disorders imposed on another" (FDIOA, ICD 68.A), das in den UK das in Deutschland weiterhin gängige Munchausen-Stellvertreter-Syndrom ablöste, wird FII nicht als Diagnose konzipiert und nach den vom Royal College of Paediatrics and Child Health (RCPCH) vorgeschlagenen Kriterien setzt FII keine vorsätzliche und bewusste Täuschung durch die Eltern - meist Mütter - voraus.
Während FDIOA als extrem selten vorkommende Form und fremd-gefährende (Kindes-gefährende) Pathologie verstanden wird (dessen Prävelenz nach aktuellem Konsenz, wie auch nach Aussage des ursprünglichen Forschers selbst, teilweise deutlich übertrieben wurde oder wird), wird FII als ‘klinische Situation, in der ein Kind durch das Verhalten und Handlungen von Eltern/eines Elternteils geschädigt wird oder droht geschädigt zu werden, die Ärzt*innen davon überzeugen möchten, dass der psychische oder physische Zustand eines Kindes oder dessen neurologische Entwicklung beinträchtigt ist (oder beeinträchtigter ist, als zutrifft)" (RCPCH, 2021, p. 11) konzipiert.
Eine von Prof. Andy Bilson (u.a. ehemaliger Leiter des Bereichs der Kinderrechte im Europarat) und die auf falsche Anschuldigungen von FII spezialisierten Forscher*innen/Fachpersonen Dr. Fiona Gullon-Scott, Dr. Judy Eaton, Sally Russell und Cathy Long für die British Association of Social Workers verfasste, forschungsbasierte und umfangreiche Handlungsempfehlung für sozialarbeitende und Fachkräfte zur Förderung einer ethischen und tatsächlich Kindeswohl schützenden Praxis stellt dabei kritisch fest, dass FII lediglich eine Vermutung aufseiten von Fachpersonen beschreibt, dass ein Elterteil Schwierigkeiten eines Kindes verursacht oder übertreibt (Long et al, 2022, S. 3).
Der im November 2023 vorgestellte Abschlussbericht eines unter der Leitung von Prof. Luke Clemens (Professor für Law and Social Justice an der at the School of Law der Leeds University) und Dr. Ana Laura Aiello laufenden Forschungsprojekts zur Prävalenz und Auswirkung von FII Beschuldigungen in England, Schottland und Wales stellt fest, dass entsprechende Anschuldigung besonders häufig Eltern behinderter Kinder (in 75% der auf behinderte junge Menschen zugeschnittenen Dienste der children's services authorities waren Eltern von entsprechenden Anschuldigungen betroffen) und behinderte Eltern (vierfach häufiger als nicht-behinderte Eltern) treffen (S. 4).
Der Bericht bemängelt weiterhin, dass die Kriterien der RCPCH vielfach zu 'false positives' und falschen Anschuldigungen führt und stellt fest, dass es in 84% der Fälle nach den ursprünglichen Beschuldigungen keine behördliche Weiterverfolgung gab oder die Anschuldigungen fallengelassen wurden, jedoch "verheerende und lebenslange" Traumata verursachen (S. 4).
Auf einer Fachtagung zu Systems Generated Trauma (durch Systeme erzeugtes Trauma) im Juli 2024, an der ich teilnehmen konnte, stellten Referent*innen und Forschende (teils noch nicht veröffentlichte) Forschungsergebnisse oder Berichte aus der Praxis vor (z.B. diesen, die ähnlich auf eine dramatisch hohe Prävelenz von unbegründeten Anschuldigungen mit gravierenden Traumafolgen hinweisen.
Mit Hinweis auf gravierende Diskriminierung starteten renommierte Forscher*innen und Fachexpert*innen kürzlich daher einen dringlichen Appell an die RCPCH, die Richtlinien für FII zurückzuziehen.
Da FII als Kategorie in Deutschland nicht gilt, könnte geschlussfolgert werden, dass die entsprechende Forschung und Appelle für den hiesigen Kontext nicht relevant seien.
Wie Shona Murphy in unserem Gespräch beschreibt, wird im Kontext der UK jedoch beobachtet, dass in der Praxis kaum zwischen FII und Munchausen-Stellvertreter-Syndrom unterschieden wird.
Forschungsinitiativen und Unterstützungsorganisationen, die auf übersehene Gefährdung des Kindeswohls und von Familiensystemen durch falsche behördliche Beschuldigungen von Eltern hinweisen, unterstreichen dabei, dass der Hintergrund für solche institutionellen Anschuldigungen darin liegt, dass viele Fachpersonen aufgrund von falschen Annahmen, inakkuratem Informationsstand, und Wahrnehmungs- und systemischen Lücken bestimmte Behinderungen, Neurodivergenzen und Erkrankungen (insbesondere autistische Neurodivergenz und das, bei autistischen Personen häufige Ehlers-Danlos-Syndrom) bzw. zusätzliche Akkumulationen von (sensorischem, interaktionellem, etc.) Stress nicht erkennen bzw. nicht angemessen reagieren können. Besonders häufig und gravierend werden diese systemisch schädigenden Dynamiken festgestellt, wenn (systemische) Probleme insbesondere bei jungen (autistischen) Menschen in Bezug auf Schulbesuch auftreten, die systemischen Faktoren jedoch verkannt werden.
Aus diesen Gründen ist es gerade im Kontext des hiesigen Schulsystems, das im Vergleich zu den UK einen deutlich eingeschränkteren Handlungsspielraum bietet, unabdingbar, dass Fachpersonen rundum Schule, Diagnostik, Therapie und Kinderschutz schnellstmöglich über veraltete Fehlannahmen und im Sinne des aktuellen Stands über Neurodivergenz, sensomotorische Systeme und bei neurodivergenten Menschen häufig auftretenden Erkrankungen wie Ehlers-Danlos-Syndrom, Mastzellaktivierungssyndrom etc. informiert werden.
Während es in England jedoch bereits respektierte Forschungsinitiativen, Unterstützungsangebote und einen kritischen Diskurs gibt, gibt es im hiesigen Kontext bisher nach meinem Kenntnisstand keine ausreichend kritische Auseinandersetzung mit dieser Dynamik und vor allem keine entsprechend informierte und systemisch anerkannten Unterstützungsangebote
Im Rahmen meiner Unterstützungs- und Aufklärungsarbeit beobachte ich jedoch (bzw. erhalte Berichte von Fällen), dass Eltern autistischer Kinder auch hier in ähnlichen Dynamiken gehäuft Anschuldigungen von Munchausen-Stellvertreter-Syndrom erleben. Vereinzelt berichten mir auch Fachpersonen (aus Jugendamt, Schule, Therapie) mit Sorge, dass sie ihre Fachpraxis teilweise nicht als Kindeswohl fördernd, sondern zum Teil in solchen Dynamiken auch als gefährend wahrnehmen. Dennoch sind es bislang vor allem Eltern autistischer Kinder, die ein großes Interesse an Aufklärungsarbeit und natürlich Unterstützungsangeboten in Bezug auf falsche Anschuldigungen äußern.
Viele autistische und neurodivergente Kinder erleben im hiesigen Schulsystem, nicht zuletzt aufgrund von mangelndem Handlungsspielraum, gravierenden Wissenslücken in Bezug auf sensorische und interaktionelle Barrieren und teilweise krassen Fehlannahmen, signifikante Akkumulation von (sensorischem und anderem) Stress, die mit einer Zunahme von (nicht erkanntem) Stressverhalten, Reizsensibilität und Vermeidung und einer Abnahme der Teilhabemöglichkeiten und schwindendem Zugriff auf vorhandene Kompetenzen einhergehen.
Die Unterstützung von solchen jungen Menschen und ihren Familien, wenn das Fachumfeld die Ursachen für zunehmendes Stress- und Vermeidungsverhalten und stark fluktuierenden Zugriff auf Kompetenzen nicht erkennt und stattdessen auf problematische und zumindest fehlinformierte Strategien setzt, ist Ressourcen-zehrend und anstrengend.
Wir brauchen flächendeckende und gut ausgestattete Unterstützungsmöglichkeiten und einen interdisziplinären Einsatz für eine drastischen Wandel sowohl in Bezug auf den aktuellen Informationsstand, als auch in Bezug auf praktische Handlungsspielräume und Möglichkeiten.
Es ist mir ein großes Anliegen, im Rahmen von Fortbildungen für Fachpersonen, Fachtagungen und Vorlesungen auf Basis von aktueller, Neurodivergenz-informierter Forschung und Forschung zu systemisch verursachtem Trauma über Dynamiken von Parent- und Carer Blame zu sprechen und den aktuellen Forschungsstand sowie vorhandene Strategien für die Praxis vorzustellen.
Ergänzend freue ich mich in diesem Sinne sehr, mit diesem Interview mit Shona Murphy einen Einblick auf den existierenden akademischen Diskurs zu dem Themenfeld geben zu können.
Shona Murphy (PhD, Edge Hill University)
Shona Murphy ist eine autistische Forscherin im Bereich der Neurodivergenz-informierten Kritischen Autismusforschung und Dozentin an der Edge Hill University. Sie ist Mutter von zwei autistischen Kindern und ihr Forschungsschwerpunkt liegt einerseits auf autistischer Elternschaft und andererseits auf einer Dynamik, die auf Englisch als "institutional parent and carer-blame" bezeichnet wird.
Shona Murphys Forschungsarbeit beschäftigt sich insbesondere mit falschen Anschuldigungen von "Fabricated und Induced Illness (FII)" gegen Eltern autistischer Kinder durch Institutionen und Behörden in England.
Sie ist Mutter von zwei autistischen Kindern. Shona kann konkaktiert werden unter murphysh [at] edgehill.ac.uk