Endometriose, neurodivergente Körper und Krankenhaus Advocacy
Ich schreibe post-OP (Operation) aus dem Krankenhaus weil es mit strukturellen Erfahrungen von neurodivergenten Personen hat. *Nachtrag vom Folgetag: ich schreibe den Beitrag um, damit der strukturelle Aspekt besser rüber kommt: es wird oft davon ausgegangen, dass es keine/kaum autistische Personen ohne erkannte oder unerkannte chronische medizinische Erkrankungen gibt.
Da viele dieser Erkrankungen aber zum einen seltener - in Körpern von typischen Personen - vorkommen, bei autistischen Personen und einigen anderen Neurominderheiten zusätzlich anders präsentieren und neurodivergente Personen mehr Diskriminierung, Missverständnisse, interaktionelle Barrieren und Gaslighting bei medizinischen Vorstellungen erleben, bleiben viele Erkrankungen unerkannt oder nicht adäquat behandelt.
Medizinisches und gesellschaftliches Gaslighting von sensorischen Verarbeitungsdifferenzen führen zusätzlich dazu, dass autistische Personen körperliche Schmerzen, Schwindel, Herzrasen, gastrointenstinale Beschwerden, Übelkeit, Migräne, Juckreiz etc. selbst nicht mehr als solche wahrnehmen bzw. nicht benennen können.
Dieser Punkt ist mir wichtig: Ein großer Teil von Stressreaktionen; Kompensationsverhalten und Schwierigkeite von bestimmten Neurominderheiten liegt nicht an der Neurodivergenz, nicht (nur) an Diskriminerungserfahrungen und unerkannten Traumata, sondern auch an nicht-erkannten bzw. nicht angemessen behandelten chronischen körperlichen Erkrankungen. An Co-Occurencies (ich sehe von dem Wort "Co-Morbiditäten" ab, da es eine ableistische Einordnung von vielen Neurodivergenzen bedeutet).
Wenn autistische Personen immer wieder sensorischer Überreizung und sensorischen Schmerzen ausgesetzt sind, das Umfeld diese aber nicht validiert, keinen angemessenen Umgang damit spiegelt und oft entsprechende Stressreaktionen abtut (gaslightet, "ist doch nicht so schlimm", "was hast Du denn jetzt"), kommt es nicht nur zu sensorischen Schmerzen; Schwierigkeiten in der interozeptiven Verarbeitung nehmen zu: unsere Körper werden zu (noch) unsichereren Orten, es ist zu unangenehm reinzufühlen, die Botschaften werden verwirrend.
Wir lernen Schmerzen, körperliche Stressreaktionen, Schwindel, Blutdruckschwankungen, Juckreiz, sogar weniger auffällige epileptische Anfällge, Verletzungen und eine Reihe an chronischen Schmerzsyndromen zu ignorieren. Sie wirken sich dennoch aus, aber wir accommodaten sie nicht; wir versuchen ihnen keinen Raum zu geben. Das erhöht - zusätzlich zu anderen Erfahrungen - starke Erschöpfungserlebnisse, Schwierigkeiten mit exekutiven Funktionen, und oft vor allem Scham. "Warum schaffe ich das nicht?" (oder andere Scham aufgrund von internalisiertem Gaslighting).
In meiner Arbeit und in meinen Kursen lege ich daher unter anderem einen Schwerpunkt auf Co-Occurencies. In einigen Neurodivergenz-informierten Räumen fordern Fachpersonen auf, dass z.B. eine Autismusdiagnose einhergehen sollte mit - informierter! - Aufklärung über häufige Co-Occurencies und Unterstützung bei kompetenter Diagnostik. Eine der Hauptforderungen vieler Vertreter*innen der Neurodiversitätsbewegung ist es, dass unsere körperlichen Erkrankungen endlich besser erforscht und besser behandelt werden.
Mehr Lebensqualität.
In Deutschland ist der Wissensstand in Bezug auf einige häufige Co-Occurencies sehr unterschiedlich, und Diagnostik- sowie angemessene Behandlungsmöglichkeiten rar.
Ich habe - schon sehr lange - eine Reihe von solchen Erkrankungen: Ehlers-Danlos-Syndrom und sekundäre Fibromyalgie, mit starken chronischen Schmerzen, Instabilitäten an der Wirbelsäule, häufigen Blockierungen, Rissen in Gelenken und weiteren Verletzungen. Ich habe diverse POTS-ähnliche Dysautonomien, die u.a. zu Blutdruckschwankungen führen und sich - wenn nicht verstanden - fälschlicherweise wie Panik, Schwindel und Konzentrationsschwierikgeiten (und Schmerzen, immer Schmerzen) anfühlen können. Ich habe Mastzellenaktivierungssyndrom, das sich mehr auf Schlaf, Migräne, Reizsensibilität, Ernährungsmöglichkeiten, den Magen-Darm-Trakt und meine Haut-Reaktionen auswirken, als ich je gedacht hätte - es stellt sich heraus, dass meine "Sensibilitäten" in Bezug auf Lebensmittel tatsächlich schützend sind: viele Lebensmittel, Vermischungen von Lebensmittel oder Sorten von Lebensmittel lösen eine Mastzellausschüttung bei mir aus
Ich schreibe das, weil ich damit nicht allein bin, weil das absolut nicht selten ist und weil ich selbst auf all diese Zusammenhänge nicht gekommen wäre ohne entsprechende Informationen.
Vor zwei Tagen wurde rundum den Uterus operiert. Ein Myom in der Uterus-Wand wurde rausgeschnitten und (mittelgradige) Endometriose wurde gereinigt.
Endometriose wird bei allen Personen selten erkannt - mein Eindruck ist, dass Schmerz-Syndrome und Beschwerden rundum den Uterus und Menstruation bei autistischen Personen/Personen mit AD(H)S besonders häufig sind. Wissenschaftlich scheint das Feld nur langsam erforscht zu werden, hier eine cis-binäre Studie. Ich wurde gestern darauf hingewiesen, dass es mehrere Studien zu der Häufigkeit von PMDS ("Prämenstuelle Dysphorische Störung") und Polyzistischem Ovarialsyndrom (habe ich anekdotisch) bei autistischen Personen mit Uterus gibt.
Viele Beschwerden des Uterus/rundum Menstruation, sowie hormonelle Schwankungen scheinen eng verknüpft zu sein mit anderen Bindegewebserkrankungen, scheinen mit mehreren anderen Erkrankungen gemeinsam aufzutreten und wirken sich (teilweise zyklisch verschlimmernd) auf Symtome von anderen Erkrankungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Affekt und exekutive Funktionen aus.
Ich bin 1 (Nachtrag: heute 2) Tag(e) post-Op, das Myom war bekannt - allerdings war der operierende Arzt die erste fachliche Person, die aufgrund der Größe des Myoms zu einer Entfernung geraten hat und einen Einschnitt auf Lebensqualität thematisiert hat; die Endometriose wurde lediglich von mir vermutet.
Das hier ist vor allem mein Punkt: Ich hatte (mittelgradige) Endometriose und ein recht großes Uterus-Myom, und selbst ich habe diese Schmerzen und sonstigen Symptome nicht so Ernst genommen.
Ich habe genug mit anderem Zeugs zu kämpfen, tatsächlich sind andere Schmerzen für mich problematischer.
Ich bin einerseits gar nicht überrascht, dass Endometriose gefunden wurde, und gleichzeitig schon.
Ich habe früher behauptet, dass meine Schmerzen und Beschwerden rundum Menstruation nicht so schlimm seien. Sie waren immer schmerzhaft, ich dachte, ich stelle mich an.
Mit Anfang 20 waren meine Schmerzen zu drei Anlässen so schlimm, dass mein Körper in einen Schockzustand verfallen ist (den beschreibe ich nicht, das erste Mal dachte ich, ich würde sterben). Nach dem dritten Mal wurde ich - zu diesem Zeitpunkt habe ich woanders gewohnt - laperoskopisch untersucht. Mehrere blutige Zysten in den Eierstöcken wurden entfernt und eine Schokoladen-Zyste hinter dem Uterus, es handelte sich wohl um Endometriose, aber das wurde nicht als Diagnose ausgesprochen und meine später behandelnden Ärzt*innen sind aufgrund meiner Beschreibungen "altes Blut hinter der Gebährmutter" nicht drauf gekommen.
Hier ist der Punkt: Ich habe meine Schmerzen in den letzten Jahren definitiv erwähnt - als ich noch angestellt war, musste ich mich regelmäßig Menstruationsbedingt krank melden (uff welch psychischer Druck mit Konsequenzen). Und dennoch: die Schmerzen waren nicht mehr so schlimm wie bei den höllischen drei Malen vor der Laparoskopie. Und seid der Geburt meines Kindes hatte ich den Eindruck, dass die Schmerzen nochmal richtig weniger geworden sind.
Nebensächlich, dachte ich lange.
Mein Orthopäde, der EDS nicht wirklich anerkennt, und viele andere Fachpersonen sind der Meinung, dass Menschen wie ich auf Schmerz konditioniert sind. Durch frühe Erlebnisse oder chronische Schmerzsyndrome erlebten wir Erfahrungen als Schmerzen, die gar keine sind.
Ich schreibe, weil ich denke, dass das Gegenteil der Fall ist: ich erarbeite es mir sehr hart, bis ich Schmerzen ernst nehme. Und ich glaube, so geht es sehr vielen von uns - wir laufen mit gebrochenen Knochen, gerissenen Gelenkteilen rum, weil wir Schmerzen erstmal nicht ernst nehmen. Ich hatte erst Ressourcen, mich nochmal um - wie sich herausstellte - zwei gerissene Menisken zu kümmern, als x mal täglich so umklappten und meine Knie blockierten, dass ich bewegungseingeschränkt war und mit Blutergüssen humpelte.
Ich schreibe, weil ich fast keine Kraft hatte, mich um eine Endometriose Diagnostik zu kümmern - ich bin diesmal nicht erst zur niedergelassenen fachärztlichen Person, sondern direkt in eine Endometriose-Sprechstunde und da ging es zum Glück schnell, sonst hätte ich nicht weiter gemacht. Und ich hätte eventuell keine Ressourcen gefunden, wenn ich in den letzten Jahren nicht immer wieder von anderen autistischen Personen mit Uterus gelesen und gehört hätte, deren Beschwerden abgetan worden waren, die eben doch Endometriose hatten und denen es danach besser ging.
Ich bin noch im Krankenhaus - ich habe eine PTBS und medizinisches Trauma, eigentlich wollte ich einen Post darüber machen, welche angemessenen Vorkehrungen ich erkämpfen konnte, aber auch darüber, dass mich das persönlich (und finanziell) viel gekostet hat und ich vor ein paar Jahren nicht dazu in der Lage gewesen wäre;
eine Anerkennung dessen, dass sicherere Krankenhausaufenthalte und Prozeduren für neurodivergente Personen durchaus möglich sind (Kopfhörer und Stimtoys im Aufwachraum sind möglich, eins von vielen Beispielen);
und eine Anerkennung dessen, dass es uns zu viel kostet, für solche Sicherheit zu sorgen, zumal wir nicht selten genau für diese Selbstadvocacy als antagonistisch wahrgenommen und diskriminiert werden.
Es hat diesmal geklappt für mich - ich bin sowohl erleichtert (sonst hätte ich die OP nicht machen können), als auch erschöpft und traurig. Viele werden diese Möglichkeiten nicht erkämpfen können, bei vielen wird es schief gehen, auch bei mir wird es wieder schief gehen.
Und ich wollte vor allem für diejenigen schreiben, die selbst Schmerzen haben, die andere - und sie selbst daher - weniger Ernst nehmen. Wenn Ihr keine Kraft für weitere Diagnostik und Kämpfe habt, I get it.
Aber ich hoffe, dass ich hiermit auf der Waagschale gegen das Gaslighting ("das ist nichts") etwas legen kann. Wie viele andere es für mich getan habe.
Ich bin inzwischen für viele von uns sehr wütend. Für die, die schon mehr wissen. Und noch mehr für die, die denken, dass ihre täglichen Schmerzen, Schwindel, Juckreiz, Migräne, Herzrythmusstörungen etc. psychisch oder eingebildet seien. Uff es gibt viel zu tun.
Falls Ihr Fragen zu Endometriose etc. habt, schreibt gerne.
Und lasst uns das Neurodiversitätsmodell auch in die Medizin und Pflege tragen.
Bis bald