Spatzen und Pinguine

Bild mit Titel des Blogbeitrags in schwarzem Text auf hellem Hintergrund. Unten rechts das Logo von Autvocacy – Farbflecken in blau, magenta, grün und gelb, die mich an Bilder von menschlichen Gehirnen erinnern. Dahinter der Text: Autvocacy – Empowerment für neurodivergente Personen

(oder „Eine Austimus Geschichte“ von J. Murray bearbeitet von Samantha Hack) übersetzt von Estin Ohm

Stell Dir vor Du bist ein Spatz und lebst in einer Spatzenfamilie in einer Spatzenstadt in einer Spatzenwelt.

Aber Du bist nicht so richtig ein guter Spatz. Eigentlich ein eher schlechter Spatz. Du kannst nicht fliegen.

Du warst bei Ärzt*innen, die dir Medizin zum Fliegen verschrieben haben. Aber du kannst weiterhin nicht fliegen. Du versuchst es jeden Tag, und jeden Tag versagst du, versagst in der einen Sache, von der alle Spatzen sagen, dass sie so wichtig sei.

Eine Zeit lang versuchst du es gar nicht mehr zu fliegen.

Jeden Tag zu versagen war zu anstrengend und du konntest einfach nicht mehr, also hast du aufgehört, es zu versuchen. Das hat eigentlich gutgetan, aber du hast dich auch ein bisschen schlecht gefühlt, weil dir beigebracht wurde, niemals aufzugeben.

Das trennte dich ein bisschen von deiner Familie. Fliegen ist eine wichtige Aktivität, die Spatzenfamilien gemeinsam unternehmen. Ist dir deine Familie nicht wichtig? Verdienen Sie es nicht, dass du es wenigstens versuchst?

Weil medizinisch alles mit dir in Ordnung ist, gehst Du zu einer Therapeutin, die eine Flugphobie diagnostiziert. Du versuchst deine Angst zu überwinden. Du hast Glück, weil deine Familie sehr verständnisvoll mit deiner psychischen Erkrankung umgeht (andere Spatzen haben da nicht so viel Glück und es ist zu schmerzhaft darüber nachzudenken).

Deine Familie respektiert und bewundert es wie sehr du daran arbeitest. Sie versuchen dich einzubinden, und statt Treffen zum gemeinsamen Fliegen trefft ihr euch, um beieinander in euren Nestern zu sitzen. Das ist auch ziemlich kacke, aber definitiv besser.

Du versuchst es immer wieder zu fliegen und immer wieder versagst du. Du strengst dich noch mehr an. Du strengst dich so stark an, wie du irgendwie kannst. Manchmal kommt es dir so sinnlos vor deine Flügel zu schlagen, weil es so ein hoffnungsloser Bullshit ist und es sich unmöglich anfühlt. Manchmal stellst du dich auf einen Stuhl und springst runter und schlägst mit aller Kraft deine Flügel und klatschst dennoch auf den Boden.

Manchmal machen sich gemeine Vögel über dich lustig, weil du so schrecklich versagst. 26 Jahre lang ist das dein Leben.

Eines Tages sagt eine Ärztin, aus dem nichts und fast nebenbei, selbstverständlich und als wäre es nicht mal Wert, das zu erwähnen, weil es so offensichtlich ist „übrigens, du bist ein Pinguin“.

Du versagst nicht. Du bist ein Pinguin. Du bist nicht faul oder schwach oder unnütz. Deine Werte sind nicht verkorkst. Du bist ein Pinguin. Du warst immer ein Pinguin.

Es ist alles in Ordnung mit dir, du bist ein wunderschöner Pinguin. Ein ganz perfekter Pinguin. Und es ist einfach Fakt: Pinguine können nicht fliegen.

Wenn du jetzt mit deinen Spatzenfreund*innen unterwegs bist und sie sitzen alle in ihren Nestern, sitzt du in einem Eimer Eis. Meistens bringst du deinen eigenen. Manche Vogelrestaurants sind sehr entgegenkommend und bringen dir einen Eimer Eis zum Drinsitzen.

Manchmal machen sich gemeine Vögel über deinen Eimer lustig, aber es macht dir nicht mehr so viel aus wie vorher, weil du weißt, dass du ein Pinguin bist und genau so bist, wie Pinguine sein sollen.

Du erlaubst es dir mit dem Fliegenüben aufzuhören:

Nicht immer nur zu versagen, verbessert deine Stimmung und dir geht es insgesamt viel besser. Du lehnst selbstbewusst ab, wenn du zu gemeinsamen Flugausflügen eingeladen wirst. Du verschwendest keine Energie mehr damit, dich deswegen schlecht zu fühlen.

Du liebst deine Spatzenfamilie, und du findest zusätzlich eine ganze Community von Pinguinen, die du auch liebst. Dinge, von denen du dachtest, dass nur du so seist – wie Fische lieber als Samen mögen – Sachen, mit denen du dich ganz allein und falsch gefühlt hast, sind gängig und völlig akzeptiert dort.

Manches wird sogar bewundert. Deine Flossen und dein runder Bauch sind einfach super. Ihr redet übers Schwimmen und wann ihr eure Vorliebe fürs Schwimmen entdeckt habt und wie sehr ihr es liebt.

Zu wissen, dass du ein Pinguin bist, bedeutet zu wissen, wo du in dieser Welt, in der du dich nie passend gefühlt hast, reinpasst. Bedeutet, dass es kein persönliches Versagen ist, dass du Dinge nicht kannst, die Pinguine nicht können. Du kannst sie gar nicht können.

Du kannst andere Dinge. Spatzen sind gar nicht so gute Schwimmer*innen. Es fühlt sich toll an, Sachen richtig gut zu können.

Deswegen sind Label wichtig. Deswegen ist es problematisch zu sagen „wir sind alle Vögel, lasst uns lieber über unsere Ähnlichkeiten, statt unserer Differenzen reden.“

Deswegen fühlt sich meine Autismus Diagnose an wie Atmen nach 26 Jahre Luft anhalten.

Gepostet in Kategorie