Barrieren in Spielsituationen und was unter Zuschreibungen liegt (Teil 1)
Ich erzähle mal von M.
M. ist knapp 6 Jahre alt und wir kennen M schon länger. M geht in die Kita, hat ein älteres Geschwister, zwei Eltern, wohnt in großem Haus und wird sehr geliebt.
M. ist sehr lustig, denkt sich ständig was aus, ist physisch sehr fit, immer auf Zack. Ist früher oft weggelaufen, manchmal direkt in Richtung Straßenverkehr, hat dabei fröhlich gelacht, „hört nicht“. Manchmal wirkt M. bestimmend, gibt Anweisungen, manchmal haut M., gerade das ältere (ca. 10-Jährige) Geschwisterkind.
M. stürzt sich teilweise auf Gefahrensituationen, läuft in neuen Situationen, an neuen Orten einfach drauf los, scheint wenig „Eingewöhnung“ zu brauchen. Daher wird es so wahrgenommen, als sei M. sehr mutig.
Dahinter liegt auch Angst/Anspannung und ich denke auch „Performance Anxiety“. Wenn andere junge Menschen gerne im Wasser spielen und das Umfeld von M. erwartet, dass M. das auch gerne macht und einfach ausprobiert, kommt M. in Stress und Vermeidung. Für das Umfeld passt das nicht so zu M., M. lernte Radfahren etc. sehr schnell. Einige Menschen möchten M. dadurch unterstützen, indem sie zu M. sagen, dass Schwimmen/Wasser nicht so schlimm sei, dass gleichaltrige oder jüngere Person X oder Y doch auch im Wasser ist und Spaß hat, dass er einfach kommen soll, einfach mal in die Arme eines Elternteils und gemeinsam ins Wasser, da passiere schon nichts etc. Dabei wird die Anspannung nicht validiert, es entsteht der Eindruck, als sei die Vermeidung unlogisch, ein Hindernis, das möglichst schnell überwindet werden sollte, damit M. weiter Kompetenzen erwerben kann.
Bestimmt steckt da auch bestimmte verbreitete (adultistische) Annahmen und behavioristische Lerntheorien dar, die davon ausgehen, dass junge Menschen/Kinder dadurch effektiv lernen und Kompetenzen erwerben, dass das Umfeld – u.a. anhand von Vergleichen mit Gleichaltrigen – entscheidet, welche Lerninhalte gerade angemessen wäre und welches Verhalten erwünscht ist.
Behavioristische Lerntheorien stehen seit einigen Jahrzehnten wissenschaftlich bereits in fundierter Kritik stehen, aber durchdringen viele pädagogische, therapeutische und Erziehungskonzepte.
Dahinter steckt die Annahme, dass junge Menschen dazu gepuscht bzw. motiviert werden sollen, bestimmte – von anderen, älteren Menschen eben als erwünscht/angemessen definierte – Kompetenzen und Inhalte zu erlernen, indem sie in diese Richtung durch eine Kombination von Spiel, Druck, Lob und Bestrafung (dazu gehört auch Ignorieren bzw. Beschämen) vermeintlich motiviert oder eben gedrängt werden.
(Der beschämende, invalidierende Teil hier wäre: „X oder Y haben doch auch Spaß im Wasser und die sind jünger“ dahinter steckt ungefähr eine Aussagen wie: „es ist unlogisch, dass Du hier nicht ins Wasser gehst, deine Reaktionen sind nicht logisch und wenn Du so wie andere sein willst, wenn Du im Wasser Spaß haben oder Lernen willst, solltest Du das überwinden, ich helfe Dir dabei“; selbst Lob für den Mut von X und Y, dass sie „sich trauen“ ins Wasser zu gehen und wie toll es ist, was sie schön können, stellt eine Art Ignorieren dar.)
Letztes Jahr waren M und das ältere Geschwisterkind mit meiner Familie im Freizeitpark. Der erste Ausflug zusammen ohne Begleitung der Eltern von M.
Irgendwann waren wir an Trampolinen und Hüpfkissen angekommen und M. kam in Stress (oder unlogische Vermeidung, sich anstellen, Un-Kooperation, je nach Perspektive und Einordnung). Andere junge Menschen hatten richtig Spaß und das machte noch mehr Stress. M. konnte nicht gut sagen „ich möchte nicht, lasst uns woanders hingehen“, M. hatte das nicht als valide Option, die Ernst genommen würde, kennengelernt; – zumal es da an Begleitpersonen gefehlt hätte.
M. war mit Abgrenzung, Vermeidungsstrategien und -es-doch-Versuchen beschäftigt. Wie anstrengend.
An einer Station – es war kurz vor Schluss im Freizeitpark – waren kaum Personen auf den Kissen. M. wollte mit mir hoch, aber ich sollte drauf achten, dass keine anderen Personen draufkommen (was herausfordernd war). M. kletterte (mit mir) immer wieder hoch, es sah nach potenzieller Freude aus, aber sackte immer wieder schnell zu Boden, wenn es so aussah, als käme ein anderer junger Mensch drauf. Ich kam – die Verantwortung hierfür lag aber bei mir – selbst in Druck, weil ich die Angst/Anspannung, aber auch Lust sah, das Vertrauen und die Vulnerabilität hinter der Bitte (Aufforderung), dass ich mitkommen und darauf achten soll, dass andere Personen nicht draufkämen, andere junge Menschen (unter anderem aus meiner Familie) aber eben doch auch drauf wollten und hier gerade keine Koordination möglich war. (Einschub: Verantwortung übernehmen bedeutet einerseits nicht, dass immer gute Lösungen möglich sind; aber ich sehe im Nachhinein einige respektvolle Lösungen, die es Wert wären, auszuprobieren).
Als Raum dafür war, Raum für Validierung ohne „aber ist doch nicht so schlimm“ und als M. bereits raus aus der angespannten Situation war, erzählte M., dass M. Angst habe. Das Geschwister ergänzte, dass es komisch sei, weil M. in der Nachbarschaft gerne auf dem Trampolin springe und spekulierte, ob es an einem Sturz vor kurzem gelegen haben könnte.
Später erzählten wir den Eltern kurz davon und zumindest die erste Reaktion wirkte wie Unglauben oder nach dem Eindruck, dass M. sich da bestimmt nur angestellt hätte.
Inzwischen gab es viele weitere Treffen und Angst haben, wer Angst hat, wer sich was traut, ob Gleichaltrige sich schon xyz trauen, ist oft Thema für M. Wir reden viel darüber. Wir erzählen von eigenen Ängsten, von Lernprozessen, in denen Angst da war und es sogar hilfreich ist, die Angst erstmal nicht zu übergehen und dass dennoch Lernen stattfinden kann und Ängste manchmal anders verschwinden. Dass wir alle vor Sachen Angst haben, dass das nicht (immer) bedeutet, dass wir bestimmte Sachen nie wieder machen. M. sind solche Gespräche wichtig, er erzählt vorsichtig, dass er Sorge hat, Schwimmen nicht zu lernen.
M kann bei Treffen und Aufregung nicht essen, teilweise auch nicht trinken, auch wenn M. hungrig ist. Manchmal sagt M., dass M. hungrig ist. Auf einem Geburtstag in einem Freizeitpark, an de M. sehr viel Spaß hatte, es aber auch zu laut fand, gab es eine kurze Snack Runde. Pommes und Slushies – oder was sich sonst gewünscht wurde. M. war sofort klar, dass M. nichts essen konnte. Auch nicht Pommes und Slushies. Als alle anderen glücklich am Tisch saßen, war M. in einer bekannten Rolle: Nörgeln. „Stören“. „Nicht-Kooperieren“. Anders-sein. „ich will spielen.“ „los.
M. kann generell schwer sitzen beim Essen. Das eigene Spiel unterbrechen, stillsitzen und anderen beim Essen zuschauen während M. selbst nicht essen kann, aber selbst vermutlich hungrig ist, ist kaum möglich. Es wäre für M. wichtig gewesen, dass genügend Begleitpersonen da sind, damit eine davon mit M. weiter spielt, während andere Menschen Eis und Slushi essen, aber das war hier situativ nicht der Fall. Es klappte besser mit Validierung „M. kann gerade nichts essen und es ist für M. sehr anstrengend hier mit uns zu sitzen, aber allein kann M. auch nicht spielen gehen und wir haben gerade nicht genügend Begleitpersonen. Das ist frustrierend“. T. kletterte dann mit M. auf Fensterbänke und alle beeilten sich, nicht aus Druck, sondern aus Verständnis heraus. Durch Reframing – ein Ändern der Narration – kam M. aus der sonst oft zugeschriebenen Rolle heraus.
Zu Hause, im vertrauten Umfeld, in der eigenen Kernfamilie sind Sachen nochmal anders; das, was mit anderen Personen macnhmal klappt, klappt im sicheren zu Hause manchmal nicht, und was bei Treffen mit Fremden gut funktioniert ist nicht einfach auf Situationen in der Kernfamilie zu übertragen. Meine Beschreibungen sollen weniger suggerieren, dass Lösungen direkt auf das Familienleben übertragbar seien – das wäre Quatsch.
Ich will hier eher zeigen, welche Entwicklung bei den Treffen mit uns sichtbar wird und welche Möglichkeiten Validierung, Reframing und entsprechende, Adultismus (und Neurodivergenz)- informierte Lösungssuche hier ermöglicht.