Lehnt das Neurodiversitätsparadigma therapeutische Behandlungen pauschal ab?

Bild mit Titel des Blogbeitrags in schwarzem Text auf hellem Hintergrund. Unten rechts das Logo von Autvocacy – Farbflecken in blau, magenta, grün und gelb, die mich an Bilder von menschlichen Gehirnen erinnern. Dahinter der Text: Autvocacy – Empowerment für neurodivergente Personen

Das Neurodiversitätsmodell wird häufig fälschlicher Weise so verstanden, dass es ausschließlich Umfeldarbeit und Anpassung des Umfelds vorsieht. Die Annahme ist: Neurodiversitäts-bestätigend bedeutet, dass Menschen einfach unterschiedlich sind, und dass jeglicher Ansatz, der auf Veränderung oder Therapie basiert, übergriffig ist. Das stimmt nicht. Das Neurodiversitätsmodell lehnt Therapie nicht ab – vor allem unter dem Aspekt nicht, dass Neurodivergenz alle Formen von neurokognitiver Abweichung, einschließlich Epilepsie, Traumatische Gehirnverletzung, etc. umfasst. Der Ansatzpunkt des Neurodiversitätsmodells ist, dass kritisch geschaut wird, welche Diskriminierungs- und Abwertungsdynamiken Einschätzungen beeinflussen, welche Änderungen notwendig sind und wie diese Veränderungen auszusehen haben. Dazu gehört: wer diese Einschätzungen fällt, und welchen Informationsstand bzw. Bias diese Personen haben. Behinderung und Unterstützung nach dem Neurodiversitätsmodell – am Beispiel von Seebehinderungen, die durch Seehilfen kompensiert werden können

Viele Menschen haben in dem Sinne eine Sehbehinderung, als dass sie eine Brille brauchen damit sie in ihrem Umfeld angemessen zurechtkommen. Eine Brille ist hier ein wichtiges Hilfsmittel, dass nicht das Ziel hat, das Wesen, die Persönlichkeit, und die Bedarfe von Personen grundlegend zu ändern. Idealerweise werden Personen auch nicht abgewertet dafür, dass sie Brillen brauchen, ihnen werden keine – fundamental menschenverbindenden – sozialen Kompetenzen abgesprochen, sie werden nicht aus Diskursen und Forschung zu Seebehinderung, Therapien und Lösungen ausgeschlossen und Seehilfen werden ihnen nicht nur vorübergehend angeboten mit der Auflage, dass sie parallel Therapien erhalten, in denen ihnen kompensatorisches Verhalten, dass Verhaltensweisen von nicht-sehbehinderten Personen nachahmt, antrainiert wird.
Bei Seehilfen-abwehrendem Verhalten wird idealerweise keine Sehhilfe aufgedrängt, sondern nach Gründen für die Abwehr und passenden Lösungen gesucht.

Der Vergleich geht aus verschiedenen Aspekten nicht ganz auf, unter anderem weil Mimik, Gestik, Körpersprache von von seebehinderten Personen nicht abgewertet und missverstanden wird – wobei seebehinderte Personen durchaus Diskriminierung, Exklusion und Abwertung erfahren.

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Zusätzlich gehe ich zumindest davon aus, dass der aktuelle Wissensstand von Optikerinnen, Augenärztinnen und Forschenden zumindest in Bezug auf typischere Seebehinderungen (oder Seebehinderungen bei ansonsten neurotypischen/nicht-behinderten Personen) weitestgehend akkurat sein dürfte, während z.B. grundlegende Annahmen bekannter Teile der defizit-basierten Autismusforschung aktualisiert bzw. korrigiert wurden, vielerorts aber dennoch als Konsens gelten.

Der Vergleich hinkt – mit einigen Neurodivergenzen zumindest – hinkt auch, weil Seebehinderung ein Resultat von Erkrankung oder Unfällen sein kann und Personen selbst an einer die Seeschwäche heilenden Behandlung interessiert sein können

In Bezug auf das Beispiel bedeuten die Forderungen des Neurodiversitätsparadigmas, dass sehbehinderte Personen keine Abwertung und Ausgrenzung erfahren, nicht aus Forschung ausgeschlossen bzw. federführend eingebunden werden – wenn deutlich würde, dass nicht-sehbehinderte das Erleben von sehbehinderten Personen deutlich anders einschätzen. Dass angemessene Hilfsmittel zugänglich gemacht, aber nicht aufgezwungen werden und dass therapeutische Maßnahmen nur nach Consent erforscht und angeboten werden.

Ein Kern des Neurodiversitätsparadigmas ist, dass die jeweiligen Neurominderheiten – kollektiv und bei Neurodivergenzen wie Epilepsie, Posttraumatische Belastungsstörung etc. selbst entscheiden, welche therapeutischen Ziele sie haben und idealerweise partizipativ an der Entwicklung von Therapien in dem Sinne involviert sind.

Für autistische Neurodivergenz sieht das Neurodiversitätsparadigma beispielsweise vor, dass von jeglichen weiteren Bemühungen der „Heilung“ oder Verhaltensanpassung abgesehen werden, fordert aber Forschung in häufiger (chronische) Erkrankungen und angemessene Therapien, finanzielle Unterstützung für Neurodivergenz-bestätigende Forschung unter Federführung autistischer Forscher*innen, und einen dringenden Wandel in Forschung, Ausbildung und Praxis, die nicht unter Federführung autistischer Personen stattfindet.