Barrieren in Spielsituationen und was unter Zuschreibungen liegt (Teil 2)
Wenn M. auf der Rückfahrt schafft, etwas zu essen, dann sorgen wir dafür, dass Lebensmittel, die tatsächlich für M. essbar wären, auch da sind. Auch wenn es die zweite Runde Pommes ist für alle an dem Tag ist.
Wir validieren regelmäßig, dass M. nicht essen KANN und dass das anstrengend für M. ist.
Inzwischen – beim vorletzten Treffen – konnte M. endlich essen. Von sich aus, ohne Nachfragen – aber in dem Wissen, dass Nahrungsmittel, die für M. tendenziell leichter sind, vorhanden sind.
„Ich möchte X essen. Eine große Portion“ – eine große Portion wurde gemacht, auch wenn es hätte sein können, dass sie doch nicht gegessen wird. Autonomie, Sicherheit und Möglichkeiten in Bezug auf die eigene Ernährung sind sehr wichtig.
Hauen und Schlagen kommt hier nicht mehr vor, – sicherlich, weil wir eben nicht das zu Hause darstellen, Stressverhalten jederart wird oft zu Hause entladen, auch und gerade wenn das zu Hause ein sicherer Ort ist. Und dieser Post soll nicht suggerieren, dass Hauen und Schlagen sofort verschwinden, wenn validiert wird, die Gründe und Zusammenhänge für Hauen und Schlagen sind komplex. Mir ist es – immer – ein Anliegen aufzuzeigen, dass unser Ziel (neben Schutz) nicht sein sollte, verletzendes Verhalten wegzukriegen, sondern Hintergründe und Bedarfe dafür – möglichst respektvoll und Adultismus/Neurodivergenz-informiert – zu verstehen.
Das potenziell verletzende Verhalten hat bei Treffen mit uns zumindest nicht aufgehört weil Bestrafung, Beschämung oder anderen Sanktionierungen befürchtet.
Wenn M. in der Vergangenheit bei Treffen verletzendes Verhalten ankündigte oder es begann, konnten wir immer erkennen, was die Hintergründe, neuromotorische Zusammenhänge und Bedarfe waren, sie validieren und Lösungen finden, die im eigentlichen Sinne von M. waren. *das ist nicht in jeder Situation, nicht für jede neuromotorische Differenz mal eben so möglich.
Gestern wurde noch etwas deutlich:
M. wirkt sehr selbstbewusst, bestimmt.
Hinter Verhalten, das oft als bestimmend wahrgenommen wird, steckt oft (nicht immer) Anxiety (ich finde das deutschsprachige Äquivalent von „Angst“ nicht passend, Anxiety beschreibt u.a. eine diffuse Anspannung vor möglichen Folgen, vor Unerwartetem oder Spezifischen, eine manchmal überwältigende Anspannung vor Unvorhersehbarkeit oder Unkontrollierbarkeit.)
M. spielt auf eine Art und Weise, die ich mit Neurodivergenz verbinde, die mir sehr vertraut ist, die für mich sehr gut funktioniert. eine Art, mit der ich sehr gut kann <3 Herz-Emoji).
M. hat elaborierte Spielvorhaben und es ist M. wichtig, die wie geplant auszuführen. M. vergisst Spielvorhaben nicht, wenn das Umfeld der Durchführung gerade im Weg steht, und kann nicht einfach ablassen von einem aufregenden Spielvorhaben (Flow State). M. wiederholt Spielablaufe gerne. Mit sehr viel sensory seeking, also viel Toben und Körperlichkeit.
Die Spielbedarfe und Spielkulturen von T. und M. passen da sehr toll zusammen – das ist beeindruckend mitzubekommen, weil beide ansonsten eher die Erfahrung machen, dass ihre Spielkulturen und Bedarfe nicht so gut mit denen anderer Personen passen. Es ist für alle empowernd und reframend mitzubekommen, welchen Unterschied es macht, wenn Personen mit normabweichenden Spielbedarfen endlich auf andere Personen mit denselben Spielbedarfen und Spielkulturen treffen. Die Möglichkeiten hier an Kompetenz-Erleben, Bindung, Kompetenz-Erwerb und Spaß/Joy – mit entsprechend informierter, kompetenter Begleitung – sind riesig und eben: beeindruckend.
In einer Spielsituation – Rollenspiel (zu dem zumindest autistische junge Personen nach dominanten defizit-basierten Ansätzen fälschlicherweise nicht fähig sein sollen) – hatten M. und T unterschiedliche Spielideen für dasselbe Rollenspiel und beide haben sie lange vorbereitet und sich mit sehr viel Energie um Mitmachen und Umsetzen bemüht.
M.s Spielidee konnte anfänglich sehr bestimmend wirken: Das ältere Geschwister, dass in der Rolle einer bedrohlichen Figur war – sollte eingesperrt sein und – das stellte sich nach mehreren Minuten immer deutlicher heraus – gar keine Möglichkeiten des Ausbrechens haben.
Für Außenstehende konnte erstmal im Vordergrund stehen, wie dominierend M. dadurch wirkte und wie frustrierend dieses Set-Up für das Geschwisterkind sein muss: jede neue Idee des Ausbruchs wurde von M. unbedingt abgetan. Wenn zwischen den Laserstrahlen hindurch geklettert werden wollte, dann wurden sie zu einer Laserwand, die bis oben ging und nicht Durchbrechbar war. Wenn eine Powerstern das Gefängnis ausbrechen sollte, dann gab es eine doppelte Schutzfunktion, die genau das verhinderte. Und so weiter.
Warum sollte der Ausbruch übrigens verhindert werden? M. wollte, dass M. und T. in ihren Rollen schlafen und M. hatte die Ideen dafür zu mir in die Yogaschaukel zu klettern (viel propriozeptiver, vestibulärer und kutaner Regulation und Co-Regulation durch selbstbestimmten Körperkontakt und Sicherheit).
Immer wieder kletterte M. in die Schaukel, legte sich in Schlafposition und sprang wieder auf, um nach dem Geschwister zu schauen und nochmal zu erklären, warum und wie es in der Rolle nicht ausbrechen konnte.
Damit es dem Geschwister und der Rolle aber gut ging, wurden fiktives Essen und Trinken und Snacks angeboten (bei einem späteren Spiel, als M. eine Show vormachte, sorgte M. erstmal dafür, dass alle – und vor allem das Geschwister (hier in der Rolle einer Figur, die entsprechend bedürftig war) – genügend reale Snacks zur Verfügung hatten).
Was M. nicht artikulieren und dabei Unterstützung brauchte: M. wollte sehr gerne die Spielidee der Schlafsituation spielen, den Spielablauf durchspielen, und konnte sich ansonsten nicht auf etwas anderes Einlassen (monotropischer Fokus, Flow State – T. ging es mit eigener Idee genauso, und mit oder ohne Begleitung (ich erinnere mich nicht) waren beide kombinierbar*), konnte aber die Schlafsituation nicht durchspielen wenn nicht ganz sicher gestellt war, dass diese nicht durch z.B. einen unvorhersehbaren Angriff der gegnerischen Person (das Geschwisterkind) im Moment des Augenschließens unterbrochen würde.
M. brauchte auch im Spiel Sicherheit, Vorhersehbarkeit und Raum.
Als dieser Bedarf – unterstützt durch mich – erkannt und artikuliert werden konnte, konnte das Geschwister die Motivation schnell verstehen, benennen, was es für eine Kooperation brauchte und es konnte endlich mit der Schlafsituation losgehen. Welch große Freude. Die Schlafsituation ging los – und war gefühlte zwei Sekunden später durchgespielt – ja, so viel Vorbereitung, so viel Potenzial für Konflikte und Zuschreibungen, für eine Idee, die nur Sekunden in der Durchführung dauerte. M ging es gut, Geschwister ging es gut, mir ging es gut, T. ging es gut, weil die eigene Idee in den zwei Sekunden eingebaut war, Ressourcen wurden mit Freude frei für die nächste Situation.**
Blicke auf junge Menschen wie M. können so unterschiedlich sein. Wo Menschen Sorge haben, dass M. Rücksichtnahme und Kompromissbereitschaft nicht „lernt“, wenn nicht in jedem Moment auf bestimmte „Kompromisse“ bestanden wird, kann die Tatsache verdeckt bleiben, dass M. sehr rücksichtsvoll und kooperativ ist; dass M. rücksichtsvoll und kooperativ wirken möchte und könnte, wenn M.s Grundanspannung, Performance-Anxiety und Sicherheitsbedürfnisse erkannt und mitgedacht würden; vor allem wenn erkannt würde, wie sehr sich vergangene Erfahrungen (von Beschämung, Unterbrechung der eigenen Spielabläufe, Ausschluss der natürlichen Spielbedarfe, Invalidierung von nicht-erkannten senso-motorischen Faktoren, normative Gestaltung und Begleitung, etc.) auf heutige Anspannungen und Strategien auswirken;
Stattdessen kann M. kann dann der Eindruck entstehen, dass M. bestimmend wirkt, weil M. tiefere Gründe einfach bestimmen will und weil M. keine kooperativen Kompetenzen hat oder entwickelt.
So Vieles würde bei solchen Einordnungen entgehen, so viele Möglichkeiten würden verpasst.