Eisdielen, Kassen, Druck auf junge Menschen und Bezugspersonen

Bild mit Titel des Blogbeitrags in schwarzem Text auf hellem Hintergrund. Unten rechts das Logo von Autvocacy – Farbflecken in blau, magenta, grün und gelb, die mich an Bilder von menschlichen Gehirnen erinnern. Dahinter der Text: Autvocacy – Empowerment für neurodivergente Personen

Heute schien endlich wieder die Sonne und wir sind mit Rollern zur Eisdiele. Ich bin alleine rein, mein Kind wollte lieber mit dem anderen Elternteil draußen warten. Die Eisdiele war recht leer, vor mir waren zwei Personen dran, deren Bestellung allerdings länger dauerte.

Ein junger Mensch/Kind kam reingelaufen, kurz darauf gefolgt von drei weiteren Personen (Eltern und Geschwisterkind).

Der erste junge Mensch lief direkt zur Vitrine – nein, eigentlich erst an der Vitrine vorbei und weiter in den Laden rein, wurde vom älteren Menschen zurückgerufen und lief dann federnd direkt zur Vitrine und energetisch hin und her -, wiederholte mehrfach was es wollte und ich hatte wieder den „anstehen ist manchmal einfach zu viel“.

Es stellte sich heraus, dass ich den jungen Menschen und seine Mutter aus einem „Krabbelkurs“ (bei dem wir zweimal waren) kannte.

Es ist heute nichts nach außen hin Bewegendes passiert. Die Bestellung vor mir brauchte weiterhin lange und da mein Kind draußen zwar aufgrund von Winterkleidung/Kälte schon angestrengt war, aber gerade mehr Zugriff auf Ressourcen hatte und draußen warten gerade ging, habe ich die Familie vorgelassen, Eis wurde bestellt, alles gut.

Warum der Post?

Erstens zur Erinnerung: wenn junge Menschen mit Wartesituationen an Kassen in Stress kommen und wir können, lasst uns sie einfach vorlassen. Diese Situationen sind einfach nicht für junge Menschen gemacht (auch wenn einige sie (manchmal) besser mitmachen können. Nein, dadurch wird nix versaut, sie verpassen nicht eine „Warten-Lernen-Lektion“, mit dysreguliertem Nervensystem findet wenig „Lernen“ statt.

Aber vor allem deswegen:
So schön es war, die Familie so (nochmal) zu erleben, sticht in meiner Erinnerung vor allem ein Moment in Erinnerung hervor:

Als der junge Mensch bouncy/federnd zur Vitrine lief, an der die beiden älteren Menschen noch bedient wurden, ging die Mutter sofort dazu, kniete sich nieder und redete mit ruhiger, beruhigender Stimme. Präventiv, beruhigend, erklärend, vielleicht auch angespannt.

Ich kenne die Familie nicht, wir kamen kurz ins Gespräch. Als ich angeboten habe, dass sie vor mir bestellen, sagte die Mutter – eine Erklärung anbietend anbietend, die ich nicht brauchte, die aber viele vergangene Fragen (und Vorwürfe) mitdenkt – dass das Kind autistisch sei. Und als ich sagte, dass ich auch autistisch bin, war sie erleichtert und sagte, , dass sie keine Menschen kennt, die das verstehen.
Es war nichts passiert. Kein größeres externalisiertes Stressverhalten, keine unangenehmen Interaktionen mit Umfeld, nach außen hin hätte es unspektakulär gewirkt.

Was mir präsent ist, ist eine subtile Anspannung der Eltern – damit meine ich keine Kritik, kein bestimmtes Verhalten, kein „falsch gemacht“, auch hier bei ihnen war nichts Dramatisches. Ich erkenne die Anspannung, weil ich sie kenne, weil sie alle Eltern, mit denen ich arbeite, erleben. Eine Anspannung, die von anderen Situationen, Erlebnissen, Befürchtungen und Druck erzählt.
Die Anspannung ist nicht aus dieser Situation im Eisladen entstanden, das schnelle Hingehen und Runterknien war kein sogenanntes „Helikoptern“, keine Überfürsorge, keine Projektion, der Elternteil wirkte halbwegs co-regulierend in einem neuronormativen Umfeld.
Ich erzähle viel über Neurodivergenz-bestätigende Begleitung und Unterstützung von autistischen jungen Menschen, warum das wichtig ist, und was das ermöglicht. Vor kurzem sagte eine „Autismustherapeutin“, dass es schön/wichtig/gut sei mitzubekommen, wie positic sich respektvolle, Neurodivergenz-bestätigende Begleitung auswirkt, und dass es schade wäre, dass viele Eltern denken, sie müssten z.B. autistisches Spiel oder normabweichendes Verhalten bei ihren jungen Menschen unterdrücken und ändern.

Ich freue mich über jede Fachperson, die mit autistischen (jungen) Menschen arbeitet und versteht/beginnt zu verstehen, dass es nicht im besten Interesse autistischer junger Menschen ist, „autistisches Verhalten“ zu unterdrücken – und ich schätze die Gespräche mit der oben erwähnten Therapeutin (die meiner Erwiderung zugehört hat).
Aber dieser Aspekt ist wichtig: die Eltern, über die die Therapeutin vielleicht etwas frustriert war, geben Druck und Botschaften an ihre jungen Menschen weiter, der an sie herangetragen wird, vom Umfeld und durchaus auch von Fachpersonen.

„Parent-blame“ bezeichnet eine Dynamik, in der Behörden/Fachpersonen Eltern autistischer junger Menschen vorwerfen, dass sie die Entwicklung ihrer Kinder gefährden. Die bei „parent-blame“ gemeinten Vorwürfe beziehen sich allerdings nicht auf elterliches Verhalten, das autistische Neurologie und Bedarfe durch unangemessene Anforderungen, Überreizung, und Gewalt gefährdet – im Gegenteil.

Basierend auf defizit-basierten Theorien wird von Eltern autistischer junger Menschen teilweise eher erwartet, dass sie „Verhalten“ unterbinden und durch „klare Regeln“ und „Ansagen“ unterdrücken. Wegkonditionieren.

Gerade wenn Eltern Bedarfe und Barrieren ihrer jungen Menschen erkennen, validieren, co-regulieren, angemessen Unterstützung und machbare Lösungen anbieten, wenn sie erhöhten Bedarf an Begleitung und Sicherheit erkennen und (so gut es geht) decken, Behörden und Fachpersonen aber weiterhin auf einem schlichtweg nicht aktuellen, nicht-zutreffenden defizitären Stand sind, wird nicht selten eine Erziehungsunfähigkeit bzw. Projektion von eigenen Ängsten unterstellt.
Neuronormativität bedeutet, dass viele Barrieren für junge autistische Personen vom Umfeld, je nach Kenntnisstand, Ansatz und Positionalität auch von Fachpersonen – nicht erkannt werden. Tatsächliche Ursachen und Zusammenhänge von Stressreaktionen werden nicht erkannt, wichtige Unterstützung nicht angeboten, interaktionelle, sensorische und andere Barrieren nicht abgebaut – nicht weil das Umfeld/Fachpersonen nicht bemüht sind oder es an guten Intentionen fehlt, sondern weil wichtige Informationen (Neurodiversitätsmodell) fehlen.

In solchen Situationen brauchen junge autistische Personen häufig engen Kontakt zu Bezugspersonen/Eltern, diese sind dann oft nicht nur safe/r persons, sondern auch support persons. Sie erkennen ein bisschen mehr, wissen ein bisschen besser, was sie brauchen könnten, haben ein paar Strategien mehr, aber vor allem: sie geben (mehr) Sicherheit.
Wenn junge autistische Personen in Situationen mit nicht berücksichtigten Barrieren engen Kontakt zu ihren Eltern brauchen, wird zu oft eine Bindungsstörung oder fehlende Zuversicht in die Kompetenzen der jungen Person oder fehlende Lerngelegenheiten in den Raum geworfen (oder diagnostiziert).
Zu parent blame ist viel zu schreiben, parent blame ist so real, so verbreitet, manchmal so bedrohlich, dass innerhalb der Neurodiversitätsbewegung auf verschiedenen Arten dazu gearbeitet wird, autistische Forscher*innen ihren Forschungsschwerpunkt auf parent-blame legen.
**Forschung und Bildungsarbeit zu parent-blame erkennt an, dass die Verantwortung von Fachpersonen, tatsächliche Erziehungsunfähigkeit, Bindungsstörungen oder sogar Münchhausen-Syndrom zu erkennen und junge Menschen entsprechend zu schützen, groß ist.
Kern der Bildungsarbeit ist auch hier, dass es ohne Verständnis autistischer Neurodivergenz im Sinne des Neurodiversitätsmodells zu falschen Schlussfolgerungen kommt. Der Aufruf ist nicht „drückt ein Auge zu“, sondern eher „Eure Arbeit ist wichtig, Ihr braucht aktuelle Infos/Fortbildungen, hört uns“. **
In diesem Post geht es nicht um parent blame an sich, sondern darum, dass Eltern autistischer junger Mensch realen Druck verspüren, dafür zu sorgen, dass ihre Kinder keine externalisierten Stress- oder Abwehrreaktionen zeigen, ohne dass Barrieren abgebaut oder angemessene Vorkehrungen angeboten werden.
In vielen Situationen erleben Eltern autistischer junger Mensch Druck, der anders ist als der Druck, die Invalidierung, und die Ausgrenzung, die ihre Kinder erleben.
Wenn Eltern Zugang zu Neurodivergenz-bestätigender Information und Strategien haben, verschwindet die Anspannung aus vielen Gründen häufig nicht, aber sie wissen zumindest, dass es wirklich ok ist, wenn ihre jungen Menschen an der Kasse nicht warten können, dass es ok ist, vorgelassen zu werden, haben ein paar Erklärungen und Handlungspläne mehr bereit, wenn das Umfeld mit Unverständnis und Verurteilung reagiert oder haben bereits gelernt, welche anderen Strategien und Lösungen sie nutzen können, damit die Situation weniger Ressourcen kostet.

Bildbeschreibung:
Schwarzer Text vor hellem Hintergrund mit dem Autvocacy Logo unten rechts. Das Logo besteht aus Farbkleksen aus magenta, blau, grün und gelb, die mich an Aufnahmen von menschlichen Gehirnen erinnern.

**in diesem Post zentriere ich Erleben von Eltern autistischer junger Menschen. In meiner Arbeit ist es mir wichtig, Erleben und Erfahrungen von (jungen) autistischen Menschen zu zentrieren, nicht zuletzt weil ihre Perspektiven und Personenschaft in den letzten 100 größtenteils ignoriert bzw. aus der Perspektive von Angehören betrachtet wurden; über – nicht mit – autistischen Personen gesprochen wurde; das Erleben als Angehörige von autistischen Personen zentriert wurde.